Die benutzte Frau

PREMIERE Der Regisseur Milan Peschel will in Hannover „Das Mädchen Rosemarie“ als Geschichte von heute erzählen

In der Realität wurde das Mädchen Rosemarie irgendwann tot aufgefunden

VON ALEXANDER KOHLMANN

Die Geschichte der Frankfurter Prostituierten Rosemarie Nitribitt, die Kontakte zu Politikern und Wirtschaftsbossen gehabt haben soll, bevor sie unter ungeklärten Umständen ermordet wurde, hat schon immer die Fantasie angeregt. Es gibt Bücher, Filme und Hörspiele über den Fall. In dem wahrscheinlich bekanntesten Film von 1958 – mit Nadja Tiller als Rosemarie – tritt das Wirtschaftswunder-Deutschland, in dem die Geschichte ja spielt, in Gestalt von dicken Männern mit Zigarren auf – eine Ästhetik, der Regisseur Milan Peschel in Hannover ein klare Absage erteilt. „Diesen Typ Wirtschaftsboss, der aussieht wie Ludwig Erhard, gibt es heute gar nicht mehr“, sagt Peschel, der die Geschichte für das Schauspiel Hannover inszeniert. „Die sehen heute anders aus.“

Zum Beispiel wie Schauspieler Henning Hartmann, der die Rolle des Liebhabers spielt: Der junge Mann mit dem Lockenkopf erinnert an Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Er sieht aus wie ein Kind, aber ein extrem mächtiges Kind, das schon einmal eifersüchtig wird auf Rosemaries andere Verehrer.

Von denen hat sie viele. Denn das Mädchen aus armen Verhältnissen hat sich zum Ziel gesetzt, es in der jungen Bundesrepublik ganz nach oben zu bringen. „Die will dazugehören“, sagte Peschel. „Die will geheiratet werden, um zu diesen Kreisen zu gehören.“ Dafür verkaufe sie sich. Rosemarie sei eine Art Sinnbild für das kapitalistische System, das nach dem Krieg in Westdeutschland aufgebaut wurde. Gerade deshalb müsse die Geschichte erzählt werden – denn man könne durchaus in die Vergangenheit abschweifen, um etwas über die Gegenwart zu erzählen. „Heiner Müller hat das in seinen Stücken letztlich auch so gemacht“, sagt Peschel.

Die Geschichte vom Mädchen Rosemarie gehöre für ihn „zum Urschleim der Bundesrepublik“: „Das waren ja Zeiten des großen Umbruchs.“ Ein Grundgesetz wurde verabschiedet, welches wichtige Dinge wie Demilitarisierung gar nicht vorsah. Und es war die Zeit des Wirtschaftswunders und des Aufschwungs. Wohlstand für alle, immer mehr Wachstum.

Als reine Geschichtsschau will Peschel seine Inszenierung aber nicht verstanden wissen. Noch immer gebe es diese Geschichte von jungen, schönen Frauen, die durch den kalkulierten Einsatz ihres Körpers an die Spitze der Gesellschaft gelangten, meint er. Der Stoff sei „aktueller denn je“, wie die Gerüchte um Bettina Wulff „gerade hier in Hannover“ gezeigt hätten.

Peschel, der ursprünglich Schauspieler werden wollte und darum zunächst eine Schauspielschule besuchte, hat an der Berliner Volksbühne unter dem legendären Intendanten Frank Castorf Regie gelernt. Dort habe er festgestellt, das richtige Freiheit als Spieler nur dann möglich sei, „wenn ganz klare Grenzen gesteckt sind. Aber innerhalb dieser Grenzen ist es sogar gewünscht, sich wirklich frei zu bewegen“.

Grenze heißt für Peschel auch, „dass ich genau weiß, was ist der Gedanke für meine Figur, welche Haltung habe ich überhaupt“. Manchmal gebe es auch formale Grenzen, „sprich alles nach vorne oder so“. Ganz einfache klare Sachen seien das. „Daraus entsteht dann eine Spannung und eine Intelligenz.“

Auch Peschels Bühnenbild erinnert an die Arbeiten an der Volksbühne. Von den verschiedenen Spielorten rund um ein Luxushotel in Frankfurt am Main sind immer nur Teile für den Zuschauer einsehbar. Während im Vordergrund das Hotelfoyer mit bunten Fünfzigerjahre-Möbeln und einer großen Freitreppe zu sehen ist, finden die intimen Szenen in einem Filmset auf der Hinterbühne statt. Eine Kamera überträgt, wie Rosemarie, gespielt von Juliane Fisch, sich einem Liebhaber im Schaum einer Badewanne hingibt.

In Großaufnahme sehen wir ihr Gesicht und fragen uns, was sie wohl denkt. Warum diese junge Frau keinen anderen Weg für sich sieht, als sich zu verkaufen. Gleichzeitig wird durch die Arbeit mit der Kamera der Zuschauer selber zu einem Voyeur. „Wir versuchen natürlich auch ein bisschen, auf die Rezeptionsgeschichte einzugehen“, sagte Peschel. „Weil letztlich alle an Rosemarie verdienen. Auch wir hier als Theater.“ Die Frau werde so noch einmal benutzt, diesmal für einen Film oder eben ein Theaterstück. „Es wird ihr sozusagen noch einmal das Blut ausgesogen von den ganzen Künstlervampiren“, sagt Peschel. Andererseits sei es wichtig, gerade solche Geschichten zu erzählen.

In der Realität wurde das Mädchen Rosemarie irgendwann tot aufgefunden. Gerüchte, dass sie heimlich das Liebesgeflüster ihrer Kunden aufgenommen hätte, konnten nicht bewiesen werden. Wie bei Peschel das Ende der Geschichte aussehen wird, weiß der Regisseur zwei Tage vor der Premiere noch nicht: „Wir haben noch einige Baustellen vor uns.“

■ Premiere: 5. 4., 19.30 Uhr, Schauspiel Hannover