Politische Mathematik rettet Koalitionsfrieden

Mit der Einigung haben Union und SPD vor allem eines gewonnen: ein bisschen Ruhe und Zeit, den nächsten Wahlkampf vorzubereiten

BERLIN taz ■ Die Mutter der Gesundheitsreform hofft, das Schlimmste hinter sich zu haben. Sie sei froh, sagte die zuständige Ministerin Ulla Schmidt gestern, dass man den monatelangen Koalitionsstreit beendet und die Neugestaltung der Krankenversorgung nun aber wirklich „abschließend beraten“ habe. Dies dürfte Wunschdenken einer Politikerin sein, die unbedingt einen Erfolg in ihrem Fachbereich vorweisen möchte.

Wer die Generalsekretäre von CDU, CSU und SPD hörte, bekam eher das Gefühl, nach der Einigung ist vor dem nächsten Streit. Kaum hatten die Parteichefs Angela Merkel, Kurt Beck und – unter Vorbehalt – auch Edmund Stoiber am Donnerstagfrüh um 2 Uhr verkündet, die Gesundheitsreform sei in trockenen Tüchern, machten die Lautsprecher der Union deutlich, dass sie der Sozialdemokratin im Gesundheitsministerium genau auf die Finger schauen werden, wenn sie den Gesetzestext ausformuliert. „Vertrauen ist zwar gut“, zitierte CSU-Mann Markus Söder Lenin, „aber Kontrolle ist in jedem Fall besser, gerade was Frau Schmidt angeht.“

Schon in den letzten Wochen hatte sich die Union beklagt, weil Schmidt die im Juli vereinbarten „Eckpunkte“ der Gesundheitsreform unzureichend umgesetzt habe. Es spricht viel dafür, dass Unionsvertreter, insbesondere die Ministerpräsidenten, auch jetzt wieder Punkte in Schmidts Gesetzesvorlagen finden werden, die ihnen nicht gefallen.

Wir sind nicht regierungstreudoof – das war Söders Botschaft. Doch selbst wenn es Merkel gelingt, ihre Parteifreunde im Bundesrat zur Zustimmung zu zwingen: Als Wunderwerk kann sie diese Reform auf keinen Fall verkaufen. So klar wie gestern ließen Regierungsparteien selten erkennen, wie wenig sie selbst an die Durchschlagskraft ihres Werkes glauben. Statt neue Errungenschaften zu preisen, zählten alle erst einmal auf, welche Forderungen der Gegenseite sie verhindert haben. „Keine Steuererhöhungen“ meldete die Union, „keine Leistungskürzungen“ die SPD.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla versuchte gar nicht erst, die Einigung als Weisheit letzter Schluss zu verkaufen, sondern läutete sogleich den nächsten Wahlkampf ein. Wer immer noch dachte, der „Gesundheitsfonds“ könnte ein dauerhaft tragfähiger Kompromiss zwischen Bürgerversicherung (SPD) und Gesundheitsprämie (CDU) sein, wurde eines Besseren belehrt. „Die solidarische Gesundheitsprämie ist und bleibt das Modell der CDU“, gab Pofalla zu Protokoll. Die Einigung von Donnerstagnacht, darauf legte er Wert, schaffe „die Voraussetzung für die Weiterentwicklung in Richtung der solidarischen Gesundheitsprämie“. Eine Kampfansage, die von SPD-Seite mit dem Hinweis gekontert wurde, langfristig strebe man natürlich nach wie vor eine höhere Steuerfinanzierung der Gesundheitskosten an, also: Bürgerversicherung.

Dass nun überhaupt ein Ergebnis zustande kam, ist vor allem dem Selbsterhaltungstrieb der Beteiligten zuzuschreiben. Alle wussten: Wenn die Gesundheitsreform platzt, könnte die Regierung platzen. Und bei Neuwahlen verlören alle. Mit ihrem Kompromiss haben sie nun Zeit gewonnen. Der Gesundheitsfonds – auf 2009 verschoben. Die einst geplante Mehrbelastung für die reichen, unionsregierten Süd-Länder – wenn überhaupt, erst nach den Landtagswahlen 2008. Beispielhaft für die Gesichtswahrung ist der Kompromiss bei der Grenze für Zusatzbeiträge (1 Prozent des Einkommens), die der SPD wichtig war. Die Grenze bleibt – auf dem Papier. Doch die Kassen dürfen unabhängig davon pauschal 8 Euro einziehen. Wer 400 Euro hat, zahlt also 2 Prozent. So etwas nennt man wohl politische Mathematik. LUKAS WALLRAFF