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Fans formieren sich zur Wall of Fuck

Widersprüche? Ja, genau. Die Goldenen Zitronen spielten im Postbahnhof ein Agitrock-Set voll ironischer Gesten

Im neuen Buch von Dietmar Dath, dem einstigen Spex-Chef, Vorzeigepoplinken und FAZ-Redakteur (was wohl nur scheinbar ein Widerspruch ist), das „Dirac“ heißt, steht Folgendes zu Beginn: „Johanna hat sechs Jahre früher (…) über David und Paul zu David gesagt: ‚Du bist einer, der meistens nur in Gedanken handelt. Aber Paul ist umgekehrt einer, der handelt, damit er denken kann.‘ ‚Du willst sagen‘, hat David geantwortet, ‚ich bin bloß Leninist – aber Paul ist Lenin.‘“

Warum diese Einführung? Es geht um Lenin. Kopf und Lenker der Bolschewiki, russischer Revolutionär, Gründer der Sowjetunion, manche mögen sich erinnern. Auch dank des Philosophen Slavoj Žižek feiert der Genosse inzwischen ein kleines Comeback unter linken DenkerInnen. Zuletzt – Ende des Bogens – haben die Goldenen Zitronen eine Platte nach ihm benannt. Auf der Hülle Sänger Schorsch Kameruns lederbejackter Rücken mit der Aufschrift: „Fuck the Police“. So viel Klarheit muss sein, auch wenn sie ironisch gebrochen ist.

Die Zitronen oder die „Goldies“, wie sie sich selbst nennen, konnten beides immer schon gut, Klarheit und Ironie. Das wird an ihren Punk-Wurzeln liegen, immerhin existiert die Band seit gut zwanzig Jahren. Sie können den deutschen Schlager zitieren wie sonst nur Dieter Thomas Heck und gleichzeitig politische Eindeutigkeiten in rumpelige Stücke packen. Zitattechnik, Brüche, intellektueller Ansatz, Agitation, Punk-Rock. „Immer diese Widersprüche“, singt Ted Gaier, neben Kamerun der zweite Stammgoldie; doch auf ihren Platten werden sie aufs Beste aufgezeigt, ausgehalten und gleichsam aufgelöst.

Am Freitagabend im gut gefüllten Postbahnhof führten sie Rockposen vor, warfen die Bastelanleitung eines Kriegsschiffs in die ersten Reihen und ließen das Publikum eine „Fuck-Wall“ aufbauen: Was für die Fans hieß, der Band den Rücken zu kehren und ihr gleichzeitig den Stinkefinger zu zeigen. Eine Aufforderung, der viele nur allzu gerne nachkamen. Diese ironische Verwendung üblicher Rockgesten war dem Widerspruch geschuldet, saturierten Agitrock vor einem weitgehend aufgeklärten Publikum darbieten zu müssen. Ohnehin sind die Goldies nicht mehr die Jüngsten, auch wenn besonders Neu-Teilzeitgoldie Mense Reets als Verjüngungskur wirkte. Kamerun beispielsweise musste die wortreicheren Texte vom Notenständer ablesen, seine Zettel nahm er nach Ende des Konzerts sicherheitshalber mit.

Neuere Stücke wie „Wenn ich ein Turnschuh wäre“ fügten sich nahtlos in den Querschnitt ihrer zweiten Werkphase (die erste bestand im Wesentlichen aus Funpunk). Sie gaben „Widersprüche“ und „0:30, selbes Ambiente“, sie gaben „Das bisschen Totschlag“ und „Sechs gegen 80 Millionen“. Sie spielten ein Stück des Gaier-Projekts Les Robespierres, noch drei oder vier Zugaben, und trotz mancher improvisiert wirkender Unbeholfenheit und häufiger Instrumentenwechsel war es ein ordentlich schwungvolles Set, immer mit dem Mut zur Lücke und dem Verweis auf die andere Ebene, auf den Spiegel ihres Tuns. Widersprüche. Und dann noch diese Selbstzweifel.

Das altersmäßig durchaus gemischte Publikum war zufrieden. Der Berichterstatter auch. Bleiben noch zwei oder drei Dinge anzumerken: Zum einen wurde deutlich, wie weitgehend asexuell das diskursive Wirken der Zitronen ist. Es gibt kein Liebeslied, es gibt kein Verhandeln des Geschlechterkampfs in ihren Texten. So bleibt man pc. Zum Zweiten: Die denkbar beste Lösung, die Welt zu retten, liegt im Sozialismus (den sie ebenfalls nicht aussprechen). Ob es dafür einen Rekurs auf Lenin braucht, sei mal dahingestellt. Und drittens: „Flimmern“ haben sie nicht gespielt. Das war schade.

RENÉ HAMANN

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