„Muss man Genscher fragen, warum dies nicht früher möglich war“

NATIONALSOZIALISMUS Moshe Zimmermann, Mitautor der Studie „Das Amt“, über die Beteiligung des Auswärtigen Amts am Holocaust

■ geboren 1943 in Jerusalem, ist Historiker und Publizist. Er ist Mitverfasser des Buchs „Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ und leitet seit 1986 das Richard-Koebner-Center for German History an der Hebräischen Universität Jerusalem.

taz: Herr Zimmermann, das Auswärtige Amt galt in der Bundesrepublik lange als Hort passiven Widerstands gegen Hitler. Ist das haltbar?

Moshe Zimmermann: Nein, das ist ein Mythos. Das Auswärtige Amt war Teil des nationalsozialistischen Apparats. Es hat am Holocaust mitgewirkt.

Was heißt das konkret?

Man machte sich dort schon früh, 1939, in einem Memorandum Gedanken über das Schicksal der Juden in ganz Europa. Autor war Emil Schumburg, damals Leiter des Judenreferats. Seine Idee war es, den Antisemitismus global so zu verstärken, dass die Welt gemeinsam mit Deutschland nach einer Lösung des Judenproblems sucht. Das Auswärtige Amt ist hier Initiator einer „Endlösung“. Bei der Wannseekonferenz im Jahr 1942, bei der die Vernichtung der Juden endgültig koordiniert wurde, war auch Martin Luther, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, anwesend. Als einer von zwölf Teilnehmern.

Dass Figuren wie Franz Rademacher, der nach Schumburg Leiter des Judenreferats wurde, am Holocaust teilhatten, ist bekannt. Aber das Amt als solches, so das Selbstbild, hielt Distanz zum Genozid.

Der Fall Rademacher ist eindeutig. Von ihm stammt der Plan, alle Juden nach Madagaskar zu deportieren. Aber es gab viele andere, die am Holocaust teilnahmen: Als das systematische Morden begann, waren deutsche Diplomaten überall in Europa daran beteiligt. Sie organisierten und koordinierten die Deportation in die Lager. Das gilt für ganz normale Botschafter, Gesandte, ihre Mitarbeiter, etwa in Bulgarien, Griechenland oder der Slowakei.

Es gab also eine aktive Beteiligung aus eigenem Antrieb?

Ja, dass Deutschland eine Großmacht sein muss, in der es keinen Juden mehr geben durfte, war eine allgemein geteilte Ansicht. Nur deshalb funktionierten diese Beamten in diesem System so reibungslos und arbeiteten aus eigenen Stücken dem Führer entgegen, wie Ian Kershaw das genannt hat.

Was wusste denn der durchschnittliche Diplomat 1942 über die Vernichtungslager?

Die Berichte der Einsatzgruppen über den Massenmord im Osten durften nicht alle lesen. Doch den meisten Diplomaten war der Plan zur Ausrottung bekannt. Man wusste zwar nicht genau, wann wer wo erschossen oder vergast werden sollte, aber die Tatsache an sich war bekannt. Außerdem hatte das Auswärtige Amt ein Privileg. Man las dort ausländische Zeitungen und Berichte, die 1942 von Massenerschießungen berichteten.

Gab es auch Widerstand im Auswärtigen Amt?

Ja, aber nur in Einzelfällen. Der deutsche Botschafter in den USA quittierte 1933 seinen Dienst. Zwei der Verschwörer des 20. Juli stammten aus dem Amt. Es gab auch andere, aber die Dokumentation ist in diesem Fall schwierig. Doch das waren Ausnahmen.

Ein wichtiger Protagonist war Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Welche Rolle hat er gespielt?

Er war eine spannende, komplexe Figur, weder Widerständler noch blutrünstiger Täter. 1938/39 versuchte er in der Tat, den Krieg zu verhindern. Aber er ist auch eine Schlüsselfigur im Apparat, nicht nur Mitwisser, sondern auch Mittäter.

Inwiefern?

Von Weizsäcker war eigentlich ein Nationalkonservativer. Seine Einstellungen zur Demokratie, zur Verfassung und auch zu den Juden schuf die Grundlage für eine Zusammenarbeit mit dem NS-System. Deshalb konnte er keine klare Grenze zur radikalisierten Politik der Nazis ziehen. Er schrieb zum Beispiel Stellungsnahmen zur erzwungenen Emigration der Juden nach Palästina – er zog die „Zersplitterung“ des Weltjudentums in aller Welt vor. Sein Schreibstil zeigt also, dass er zum Diskurs des Dritten Reiches keine Distanz hatte. Als Jahre später das Reichsicherheitshauptamt anfragte, ob 6.000 französische Juden nach Auschwitz deportiert werden sollen, gab es von seiner Seite „keinen Widerspruch“.

Sie haben sich für das Buch „Das Amt“ mit der Zeit von 1939 bis 1945 befasst. Arbeiten im Amt bis 1945 eher Opportunisten oder überwiegend NS-Gesinnungstäter?

Es gibt beides. Opportunismus ist eine oft benutzte Ausrede. Ich habe früher ein Gespräch mit Albert Speer geführt, der einer der mächtigsten Männer im NS-Reich war. Er hat sich auch als Opportunist bezeichnet, um seinen eigenen Anteil an den Verbrechen kleiner erscheinen zu lassen. Viele waren nicht bloß Opportunisten, sondern überzeugte Antisemiten, Rassisten, Antibolschewisten etc., die aus Überzeugung für Großdeutschland kämpften.

Hat Sie bei Ihren Recherchen etwas überrascht?

Historiker sind nicht leicht zu überraschen. Gerade bei diesem Thema nicht, bei dem man auf viele Vorkenntnisse zurückgreifen kann. Was mich verblüfft hat, ist insofern am ehesten, wie viel schon seit dem Wilhelmstraßenprozess 1947 bekannt war und wie viel einfach nicht wahrgenommen wurde. Weil der Mythos vom sauberen Auswärtigen Amt bleiben musste. Unser Projekt ist ja nur zustande gekommen, weil Joschka Fischer die richtigen Fragen gestellt hat. Muss man Hans-Dietrich Genscher fragen, warum dies nicht früher möglich war.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE
MARKUS SCHULZ

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