nebensachen aus tokio
: Platznot auf dem Friedhof

Bisher zeugten auf japanischen Friedhöfen schlichte Steinsäulen jahrhundertelang von der Vergänglichkeit menschlicher Wesen. Das war einmal. Da im vorigen Jahr die Zahl der Verstorbenen erstmals größer war als die der Geburten, werden auch Orte der letzten Ruhe Mangelware.

Die meisten Leute lassen sich gemäß buddhistischem Ritus kremieren. Aus der Asche fischen die Angehörigen Knochenteilchen heraus und bewahren sie mit der Asche in einer Urne zu Hause auf. Diese wird später auf einem Friedhof in einem Grab beigesetzt. Einziger Schmuck ist eine Steinsäule, in die der posthume Name der Verstorbenen eingraviert ist. Die Namen, unter denen man die Toten zu Lebzeiten kannte, sucht man auf japanischen Friedhöfen vergeblich.

Solange die Friedhofsverwaltungen genügend Landreserven hatten, blieben die Gräber unangetastet. Damit ist nun Schluss: Gemeinden beschließen aus Platznot, Grabsteine zu entsorgen. Verlotterte und verwaiste Ruhestätten kommen zuerst an die Reihe. Mit dem Entfernen der Grabsteine schafft man den dringend benötigten Platz, aber auch ein neues Problem: Wohin mit diesen Tonnen Schutt? Obwohl es keine gesetzlichen Grundlagen gibt, was mit alten Grabsteinen zu tun ist, weigern sich die meisten Firmen, die gesegneten Steinhaufen zu entsorgen. Recyclingfirmen wollen aus religiösem Respekt und aus Angst, Tabus zu brechen, keine Grabsteine wiederverwerten.

So ist die Präfektur Kioto gezwungen, die alten Stelen vorläufig in waldigem Berggebiet zu lagern. Um das tonnenschwere Problem anzugehen, suchen derweil die Vereinigung Japanischer Grabsteinhersteller, Friedhofsverwalter und religiöse Würdenträger nach Lösungen. Kürzlich veröffentlichten sie Bedingungen, wie die qualitativ sehr guten Steine wiederverwertet werden könnten, ohne die Seelen der Verstorbenen zu erzürnen. Lösungsvorschlag eins: Mit Grabsteinen der Gewalt des Wassers Einhalt gebieten. Werden zerkleinerte Steinsäulen an Stelle von Zement oder Beton eingesetzt, um Flussläufe zu korrigieren, könnten die verstorbenen Seelen nach Ansicht der Fachleute leicht in die Natur zurückkehren. Eine Bedingung zur „Erlösung“. Selbstverständlich, dass die posthumen Namen ausgeschliffen werden müssen, damit weder Fischer noch Bootskapitäne sich auf einem Friedhof wähnen.

Noch wässriger ist Lösungsvorschlag zwei: Die Grabsteine im Meer versenken – als Habitat für Fische. Auch hier sind Japaner pragmatisch: In Fragen der Religionszugehörigkeit gibt es nämlich kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Deshalb wird zwar buddhistisch gestorben. Schintoistische Elemente spielen aber weiter ihre Rolle. Und somit ist klar: Götter und Seelen wohnen in der Natur. Ergo ist auch der Meeresboden idealer Lagergrund für heiligen Schutt und die darin hausenden Seelen.

RUTH BOSSART