„Wortlos weint die Frau“

Auszug aus einer von „Lettre International“ prämierten Reportage von Anna Politkowskaja

Wir befinden uns im Hof des ärmsten Hauses von Nochtschij-Keloi. Hier wohnte der Geschichtslehrer Abdul-Wahhab Satabajew, dessen Schädel man nicht gefunden hat. Man hat seine in ein „Bündel“ gewickelten Reste ohne den Kopf beerdigt.

Baisark ist Abdul-Wahhabs Witwe. Die fünf Waisenkinder kommen nicht aus dem Haus und beteiligen sich nicht am Gespräch der Erwachsenen. Sie haben ihre Gesichter an eine kleine Fensterscheibe gepresst. Die jungen Mädchen mit den schwarzen Schultertüchern mustern mich mit strengen und geringschätzigen Blicken, als hätte ich ihren Vater umgebracht. Die Witwe streckt nun ein wenig die Hände auseinander, als wollte sie einen Suppenteller nehmen, um mir zu zeigen, was sie beerdigt hat: gerade einmal zwei verkohlte Knochen.

„Tatsächlich waren die Knochen ziemlich groß“, erklärt Baisark. Sie erschauert und blickt zu den sich ans Fenster drängenden Töchtern hinüber. „Wir haben eine Regel: Man muss die Toten in eine große Menge Stoff einhüllen. Also haben unsere Alten viele Laken benutzt, damit es Ähnlichkeit mit einem Leichnam hat.“

Wortlos weint die Frau, und die Alten des Dorfs, die allmählich im Hof zusammenkommen, seufzen vorwurfsvoll: Hier ist es nicht üblich, dass eine Witwe weint, wenn sie von ihrem verstorbenen Mann spricht. Die Töchter haben das Recht, zu weinen, aber nicht Baisark. „Was soll ich tun?“, fragt Baisark, die sich beruhigt hat, wie es die Tradition verlangt. „Wie kann ich die Wahrheit herausfinden? Wer sind die Schuldigen? Und wer wird mir helfen, sie zu entdecken?“

„Alle haben uns und unser Leid vergessen“, bestätigen die Alten.

Auszug aus dem Buch „Tchétchénie. Le déshonneur russe“, für das Anna Politkowskaja 2003 den Lettre Ullysses Award for the Art of Reportage erhielt