„Niemand ist mehr sicher“

Die russische Journalistin Anna Politkowskaja wurde ermordet, weil sie über den Krieg in Tschetschenien berichtete. Die Stiftung für politisch Verfolgte hatte sie nach Hamburg eingeladen. Geschäftsführerin Martina Bäurle im Interview

taz: Frau Bäurle, seit 20 Jahren lädt ihre Stiftung politisch Verfolgte nach Hamburg ein, um sie ein Jahr lang aus der Schusslinie ihrer Gegner zu nehmen. Warum ist Anna Politkowskaja nie ihr Gast gewesen?

Martina Bäurle: Wir haben sie 2003 eingeladen. Doch als sich der Konflikt im Kaukasus zuspitzte, wollte sie ihre Arbeit nicht unterbrechen. Sie sagte, ihr Volk brauche jetzt ihre Stimme. Politkowskaja war als Journalistin sehr geschätzt und einflussreich. Sie hätte sicher auch als Vermittlerin bei der Geiselnahme von Beslan Erfolg gehabt, wenn Putin sie gelassen hätte.

Warum stand sie auf der Liste ihrer Stipendiaten?

Im Februar 2001 wurde sie verhaftet, weil sie ohne Genehmigung in einem Gefangenenlager der russischen Armee in Tschetschenien recherchiert hatte. Dann, 2002, wurden einige Kollegen von ihr ermordet. Auf dem Weg zum Geiseldrama in Beslan 2004 wurde Anna vergiftet. Es gab viele Hinweise darauf, dass sie in Lebensgefahr schwebte.

Drei Tschetschenen sind derzeit Gast ihrer Stiftung. Ist es in deren Heimat gefährlicher als anderswo auf der Welt?

Es ist sehr schwer zu entscheiden, wem wir helfen und wem nicht. Die Art der Verfolgung spielt dabei keine Rolle, sondern nur, wer in der größten Gefahr schwebt. In Tschetschenien herrschen Krieg, Verfolgung und Folter. Unsere Stipendiaten sind bisher nur durch Zufall einer Festnahme entgangen.

Vor wem schützen sie den Fotografen Musa Sadulaev und die Freiheitskämpferinnen Libchan Basajewa und Taita Junusova? Vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin?

Ich kann nicht sagen, wir schützen sie vor Putin. Wir schützen sie vor dem russischen Militär und dem Geheimdienst FSB, der furchtbare Verbrechen begangen hat. Auch das Militär um den tschetschenischen Präsidenten Kadyrow ist gefährlich, und andere Entführerbanden. Wenn nachts unschuldige Menschen abgeführt werden, weiß oft keiner, wer die maskierten Entführer waren. Unsere Gäste erzählen von vielen schrecklichen Einzelschicksalen.

Wie können die drei nach soviel Leid noch weiter kämpfen, selbst von Hamburg aus?

Sie nutzen die Zeit hier, um Kontakte aufzubauen, die ihnen später in der Heimat helfen. Aber natürlich sind sie auch traumatisiert. Wenn die Gefahr abebbt, kommen Depressionen hoch. Taita hat nachts schwere Alpträume, Musa litt lange an Migräneanfällen.

Wie haben sie auf Politkowskajas Tod reagiert?

Mit tiefer Betroffenheit. Sie alle kannten Anna persönlich, diejenige, die Tschetschenien nie in Vergessenheit geraten ließ. Sie hat so klar gesprochen wie Journalisten es selten tun. Anna war berühmt. Wenn selbst sie ermordet werden kann, ist niemand mehr sicher.

Fürchten Sie um ihre Schützlinge, wenn diese demnächst nach Hause reisen?

Bisher hat die Bekanntheit, die unsere Stipendiaten in ihrer Hamburger Zeit erlangten, ihnen auch nach ihrer Rückkehr Schutz geboten. Diese schreckliche Hinrichtung verändert die Dinge. Trotzdem wollen Basajewa und Sadulaev ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen.

Wären die Dinge anders gelaufen, wenn Politkowskaja 2003 nach Hamburg gekommen wäre.

Nein, leider nicht. Sie wäre nach einem Jahr zurückgekehrt, wie alle unsere Gäste. Sie wusste um die Gefahr und ist sich treu geblieben. Wie sie haben sich alle Stipendiaten lange, bevor sie zu uns kamen, entschieden, gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen. Deswegen machen sie weiter.

INTERVIEW: SILKE BIGALKE