Endstation am Fuß der Halde


„Die Siedlung ist ein Biotop für Menschen, die woanders nicht unterkommen“

AUS BOTTROP LUTZ DEBUS

Der Borsigweg ist Sackgasse und Einbahnstraße zugleich. Eigentlich müssten an der Einmündung zu der kleinen Straße im Bottroper Stadtteil Boy beide Verkehrsschilder aufgestellt sein, um das Dilemma der Menschen, die da wohnen, plakativ darzustellen. „Pampa“ nennen die Bottroper diese Gegend. Die schmale holprige Straße ist eingerahmt von dem Gelände der inzwischen stillgelegten Zeche Ahrenberg-Fortsetzung, einer Halde und einer Bahnlinie. Nur wer die kleine einspurige Brücke über die Gleise findet, gelangt ans Ziel.

Aber wer will schon hier hin? Der Borsigweg gilt in der Stadt schon lange als Endstation. Menschen, die mit Polizei und Ordnungsamt aus ihrer Wohnung befördert wurden, weil sie die Miete nicht bezahlt hatten oder weil die Zustände in der Wohnung untragbar waren, landeten in der Obdachlosensiedlung am Borsigweg. Das war Jahrzehnte lang Praxis. Statt Miete wurde eine geringe Nutzungsgebühr an die Stadt fällig. Dafür gab es pro Person ein halbes Zimmer, für vier Personen eine Toilette, für 20 Personen eine kalte Dusche. In jedem Raum stand ein Kohleofen, der gegen die handbreitdicken Wände anheizte.

Die 13 Gebäude haben im Laufe der Zeit oft ihren Namen gewechselt. Statt Obdachlosensiedlung hieß das Ensemble in den 1980er Jahren „sozialer Brennpunkt“, später standen die Häuser in einem „benachteiligten Stadtteil“. Inzwischen gehören die zweigeschossigen Häuser mit den je acht bis zehn Wohneinheiten zu einem „Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf“. Die Verwendung dieser furiosen Wortschöpfung war notwendig, um an entsprechende Fördermittel zu kommen. Drei Gebäude wurden vor fünf Jahren mit Hilfe von Landesmitteln umgebaut, so dass sie nun dem Standard von Sozialwohnungen entsprechen. Zwei Häuser wurden abgerissen. Die restlichen Blöcke sind so geblieben, wie sie vor 45 Jahren gebaut wurden.

In einem der modernisierten Blöcke, in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Parterre, wohnt Auguste Rayda. Die Wohnungstür steht offen. Auf dem Küchentisch liegt eine Wachstuchdecke. Klar, der Abwasch kann warten. Auguste Rayda will gerne erzählen. Als sie sechs Jahre alt war, zog ihre Familie in den Borsigweg. Der Vater war Bergmann. Damals standen hier noch Holzbaracken, Behelfsunterkünfte für die Arbeiter. Acht Kinder und die Eltern in vier kleinen Zimmern, das war schon eng. Wie sie den Krieg in Bottrop erlebt hat? „Gar nich, am Ende vom Krieg bin ich ja erst geboren“, meint die Frau mit der weißen Dauerwelle. Auguste Rayda meint den Ersten Weltkrieg. Sie ist Jahrgang 1918, wohnt also jetzt 82 Jahre am Borsigweg.

„Na ja, im anderen Krieg sind hier ein paar Bomben gefallen.“ Man saß im Bunker. Aber sonst war es früher schöner hier, schwärmt die Rentnerin. Auch als dann die Baracken durch die Backsteinhäuser ersetzt wurden. „Mehr Einigkeit war untereinander. Man musste die Wohnung nicht abschließen, wenn man weg war.“ Letzte Woche stand mitten in der Nacht ein junger Mann vor ihrer Tür, wollte unbedingt rein. Aber sie hat nicht aufgemacht, kannte ihn ja nicht. Früher kannte sie hier jeden. Es klopft an der geöffneten Tür, eine Nachbarin kommt zu Besuch. Auch Margot Heinemann erzählt gern von ihrem Leben am Borsigweg. Sie wohnt erst seit 1957 hier. Mit Mann und zwei Kindern war sie von „drüben“ gekommen. Erst war der Mann auf der Zeche, hatte aber nach einem halben Jahr alles hingeschmissen. So mussten sie in die Siedlung hier ziehen. Ein Zimmer für vier Personen. „Wir hatten nichts, mussten auf dem Boden schlafen.“ Aber auch Margot Heinemann ist zufrieden. Die neue Wohnung hat Zentralheizung und Doppelverglasung. Die Wände sind trocken. Zwei Zimmer für sich allein. Mehr will die 79-jährige gar nicht. Und sicher fühle sie sich auch. „Meine Tochter wohnt neben mir mit den drei Hunden. Da traut sich keiner an meine Tür.“

Tatsächlich, so erklärt Conny Kavermann, wohnen viele Menschen am Borsigweg in der zweiten oder dritten Generation. Die Sozialpädagogin kennt die Siedlung gut. Seit 1981 arbeitet die 50-jährige nun schon bei der „Arbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Bottrop e.V “. Der kleine Verein betreibt eine Kindertagesstätte und ein Jugendzentrum am Borsigweg. „Die Siedlung ist ein Biotop für Menschen, die woanders nicht unterkommen.“ Nirgendwo sonst könne man unbehelligt Tag und Nacht zusammen sitzen. „Im Sommer beim Grillen immer ein geiles Pilsken dabei“, zitiert Conny Kavermann einen Anwohner. Warum sollte man wegziehen, in die Anonymität? Die Wohnverhältnisse in den alten Gebäuden seien wegen der schimmligen Wände und teilweise fehlender Fensterscheiben zwar katastrophal. Dennoch seien viele Alteingesessene, die es auf dem freien Wohnungsmarkt versucht hätten, zurück gekommen.

Die Belegungszahlen in den Gebäuden am Borsigweg sind trotzdem stark rückläufig. 1996 waren in Bottrop noch über 300 Menschen als obdachlos gemeldet. Im Jahr 2003 waren es nur noch 28. Dabei geholfen hat sicherlich das noch unter der rotgrünen Landesregierung begonnene Programm „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“. Neuzugänge konnten durch die Übernahme von Mietschulden vermieden werden. Einige Familien vom Borsigweg wurden in normale Mietverhältnisse vermittelt. Auch die Mieter der modernisierten Häuser, die nun einer Wohnungsbaugenossenschaft gehören und nicht mehr zur städtischen Notunterkunft gehören, gelten nicht mehr als obdachlos. So konnte auch vielen, die nicht weg wollten, geholfen werden.

„Mehr Einigkeit war unter einander, mann musste die Wohnung nicht abschließen“

Aber die Statistik trügt. Es sind neue Bewohner dazu gekommen, und andere firmieren nicht mehr unter dem Begriff. Aus der einst homogenen Obdachlosensiedlung ist ein sozialpädagogischer Gemischtwarenladen geworden. Fünf Wohnblocks werden von der Stadtverwaltung für Asylbewerber benutzt. Und eines der Häuser gilt als Nachtunterkunft für alleinstehende Männer. Im Klartext bedeutet das, dass dort alkohol- und drogenkranke Männer wohnen. Gleich gegenüber, in einem modernisierten Block, hat deshalb eine Kontaktstelle für Drogensüchtige ihre Pforten geöffnet. Jeder, der will, bekommt dort morgens für 50 Cent ein Frühstück.

Der Andrang ist groß. An diesem Morgen sind fast 30 Menschen gekommen. 80 Prozent von ihnen, so schätzt Stefan Otte von der Kontaktstelle, seien drogenabhängig. Und der Rest? Einsame und Alteingesessene. Nun, nach dem ersten Andrang, ist ein bisschen Ruhe eingekehrt. Stefan Otte füllt eine Waschmaschine. Mancher Junkie nimmt diesen Service gern in Anspruch. Bei einer letzten Tasse Kaffee und einer dicken Zigarre sitzt schweigend ein alter Borsigwegler. Nein, drogensüchtig sei er nicht, grinst er. Er komme wegen der netten Stimmung. Bei ihm sitzt ein jüngerer Mann. Auch er habe nichts mit Heroin zu tun. Bei einem Motorradunfall habe er einen Teil seiner Schädeldecke und seines Gehirns verloren. Aber in ein Heim wollte er nicht. So sei er eben hier gestrandet.

Auch Auguste Rayda sitzt inzwischen mit ihrer Nachbarin bei einer Tasse Kaffee zusammen. Was wohl aus all den Jungs von früher geworden ist? „Bodo hat es geschafft“, weiß Margot Heinemann. Der wohnt, so wurde ihr berichtet, in einem anderen Stadtteil und arbeitet in einer Fleischfabrik. „Aber sein Kumpel, der Roland, der hat ja viel getrunken. Der soll jetzt in ‘nem Pflegeheim liegen.“ Draußen, vor der Tür, geht der Blick hoch zur Halde. Darauf thront der Tetraeder, eine der Touristenattraktionen der Stadt. Zur Internationalen Bauausstellung wurde das Rohrgestell als Aussichtsplattform auf den künstlichen Berg gestellt. Besuchern der ehemaligen Bergarbeiterstadt wird hier gern der Strukturwandel der Region gezeigt: das grüne und moderne Ruhrgebiet. Ob die Gäste wohl auch mal einen Blick nach unten wagen?