Immer einen Schritt mehr machen

BERG-KARABACH In der Krisenregion sorgt die Armenierin Anahit Bayandour dafür, dass Männer verhandeln, statt zu kämpfen

■  Ende der 80er Jahre kam es in den beiden Kaukasusrepubliken Aserbaidschan und Armenien gehäuft zu Pogromen gegen die armenische und aserbaidschanische Minderheit. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eskalierte die Situation. 1991 rief das mehrheitlich von Armeniern bewohnte und in Aserbaidschan gelegene Berg-Karabach seine Unabhängigkeit aus. In der Folge bekämpften sich armenische und aserbaidschanische Einheiten mit den Waffen der bis zur Unabhängigkeit im Land stationierten sowjetischen Truppen. 30.000 Menschen verloren dabei ihr Leben. Seit dem 1994 geschlossenen Waffenstillstand gilt der Karabach-Konflikt als „eingefrorener Konflikt“. Doch an der Waffenstillstandslinie wird weiter geschossen. Am gestrigen Donnerstag verlor ein Aserbaidschaner nahe der Waffenstillstandslinie ein Bein, nachdem er auf eine Mine getreten war. Am gleichen Tag berichtete die aserbaidschanische Nachrichtenagentur day.az vom Beschuss aserbaidschanischer Stellungen durch armenische Truppen. (cla)

VON GESINE DORNBLÜTH

Es war 1992, auf dem Höhepunkt der Kämpfe um Berg-Karabach, als die Armenierin Anahit Bayandour ins Land der Feinde fuhr, nach Baku, die Hauptstadt Aserbaidschans. Ein heikles Unterfangen. Ein paar Männer wollten mitkommen. „Ich war mir nicht sicher, ob sie sich in Aserbaidschan im Griff haben würden“, sagt Anahit Bayandour. Und noch etwas sprach dagegen, Männer als Begleiter mitzunehmen. „Männer werden in jedem Fall mit Krieg assoziiert.“

Anahit Bayandour fuhr allein. Zu diesem Zeitpunkt waren schon viele Soldaten auf beiden Seiten gefallen, Zivilisten ermordet und hunderttausende Menschen auf der Flucht: Armenier aus Aserbaidschan, Aserbaidschaner aus Armenien und aus Berg-Karabach.

Es geht um ein Gebiet, das doppelt so groß ist wie das Saarland. Berg-Karabach liegt in Aserbaidschan, wird aber heute nur noch von Armeniern bewohnt. Die aserbaidschanischen Bewohner wurden vertrieben. Berg-Karabach hat sich für unabhängig erklärt. Aserbaidschan beansprucht das Gebiet für sich. Ein 1994 geschlossener Waffenstillstand wird immer wieder gebrochen, die Regierungen beider Länder können keinen Kompromiss finden. Und Aserbaidschaner und Armenier leben fast vollständig voneinander isoliert. Wie soll hier eine Friedensmission gelingen? Anahit Bayandour hat es auf ihre Weise versucht. „Ich habe den Aserbaidschanern gesagt, dass ich nicht zu Feinden gekommen bin, sondern in ein Land, das großes Unglück durchlebt“, sagt Anahit Bayandour. Warum macht sie das alles?

Anahit Bayandour stammt aus einer armenischen Intellektuellenfamilie, sie hat lange in Moskau gelebt. Sie ist Übersetzerin für russische Literatur und etwa 70 Jahre alt. Ihr wahres Alter will sie nicht verraten. Oft wirkt sie wie ein junges Mädchen.

1992 gründete sie die armenische Gruppe der Helsinki Citizens’ Assembly, einer europaweiten Bürger- und Menschenrechtsorganisation. „Als ich 1992 in Aserbaidschan war, sah ich, dass dort im Fernsehen genau das Gleiche gesagt wurde wie bei uns: Der Feind hat sehr hohe Verluste, wir haben keine. Das ist billige Propaganda.“ Da begriff sie, sagt sie, dass dies ihre neue Aufgabe sein könnte.

Es gibt immer noch keinen Frieden in der Region. Wie kann man den erreichen? „Die Menschen müssen wieder zueinander finden“, glaubt Anahit Bayandour. Und: „Je mehr Frauen am Friedensprozess mitwirken, desto besser.“ Im Südkaukasus engagieren sich viele Frauenorganisationen erfolgreich in Friedensgesprächen. Die Vereinten Nationen haben mit Gulnara Shahinian vor zwei Jahren eine Anwältin aus Armenien zur UN-Sonderberichterstatterin für den modernen Sklavenhandel ernannt. Anahit Bayandours wichtigste Partnerin im Bemühen um Frieden in Berg-Karabach ist Arzu Abdullayeva. Die 56-Jährige leitet die Helsinki Citizens’ Assembly in Aserbaidschan.

Die beiden Frauen lernten sich zu Beginn des Kriegs bei einer Konferenz in Bratislava kennen. Nach dem Besuch Bayandours in Baku fuhr Arzu Abdullayeva nach Armenien. Die armenischen Zeitungen verglichen damals das Treffen der beiden Frauen mit dem Flug Gagarins in den Kosmos. 1992 erhielten Bayandour und Abdulyeva 1992 den Olof-Palme-Friedenspreis.

Seither laden sie regelmäßig Vertreter beider Länder zu Friedensgesprächen ein. Immer sind Frauen mit dabei: Historikerinnen, Politologinnen, Journalistinnen. „Frauen sind wie Zement“, sagt Anahit Bayandour, „sie halten die Gruppen zusammen.“ Die Frauen sorgten dafür, dass die Kriegsgegner konstruktiv miteinander diskutieren, obwohl die Wunden längst nicht verheilt sind.

Beim letzten Treffen im Sommer waren Flüchtlinge dabei. Sie berieten, wie beide Seiten wirtschaftlich zusammenarbeiten könnten. „Es war das erste Mal, dass wir uns als eine Gruppe wahrgenommen haben, nicht als zwei Lager“, sagt Anahit Bayandour. Einige armenische Politiker sagten aber später, dass man so etwas mit dem Feind nicht bereden dürfe. Anahit Bayandour sagt: „Unsere Regierungen sind zu keinem konstruktiven Dialog bereit.“ Jetzt finden die Treffen meist in Georgien oder Skandinavien statt.

Als Anahit Bayandour 1992 das erste Mal Armenier und Aserbaidschaner zu Friedensgesprächen an der Grenze zwischen den beiden Ländern einlud, wählte sie keinen armenischen Ort, sondern das erste Dorf hinter der Grenze, auf aserbaidschanischer Seite. Solche Gesten sind wichtig, sagt sie: „Wer Frieden erreichen will, muss immer einen Schritt weiter auf den anderen zugehen als erwartet.“