berliner szenen Auge am Straßenrand

Die Nachtwache

In der Oranienburger Straße wird man seit ein paar Tagen von einem großen Auge angeglotzt. Auf der einen Straßenseite quetschen sich vor asiatischen Restaurants leere Tische aneinander; auf der anderen Seite wird die Dunkelheit nur von den weißen Korsetts der Prostituierten durchbrochen. Aber jetzt ist da dieses Auge. Es kauert hell leuchtend in einer Ecke, größer als ich und breiter erst recht. Es besteht aus einem weißen Ball aus Zeltstoff, der mit Luft gefüllt ist und auf den irgendein Beamer vom nächstgelegenen Straßenschild aus dieses schwarz-weiße Auge projiziert, das hektisch auf dem Ball hin und her hüpft. Es heißt iball, gehört HC Giljes und ist Kunst im öffentlichen Raum.

Zu Beginn des Abends, nach Abschluss der Dämmerung, fotografieren dicke, grauhaarige Männer in bunten Allwetterjacken dicke, grauhaarige Frauen, die in bunten Allwetterjacken neben dem Auge posieren. Junge Eltern hieven ihre Sprösslinge aus den Sportkinderwagen, damit sie ihre Nasen und Zungen und Pfoten auf das Auge drücken können. Etwas später inspizieren Gruppen pubertierender Schüler das Auge, manche drohen ihm auch mit Zigarettenkippen. Aber komischerweise traut sich keiner, dem Auge die Luft rauszulassen. Noch später knutscht ein junges Pärchen ans Auge geschmiegt. Da, wo eigentlich die Pupille wäre, sind jetzt ihre Körper, mitten im blauen Beamerlicht. Entweder sind die völlig weltvergessen vor lauter Lust, denke ich, oder sie sind extrem exhibitionistisch. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus: Die beiden sind schlichtweg betrunken.

In den Morgenstunden hat sich das Paar davongeschleppt, aber auch das Auge ist weg. Es scheint das helle Tageslicht zu scheuen. CORNELIA GELLRICH