Von der Qual der Hoffnung

Seit mehr als drei Monaten werden die 39-jährige Karen Gaucke und ihre Tochter Clara vermisst. Der mutmaßliche Mörder sitzt in Untersuchungshaft und schweigt zum Versteck der Leichen. Die Angehörigen fühlen sich durch die Ungewissheit gefoltert

Wie soll man sich mit demTod der liebsten Angehörigenabfinden, wenn dafürder letzte Beweis fehlt?

VON ELKE SPANNER

Es gibt Kriminalfälle, in denen es schwer ist, dem mutmaßlichen Täter gegenüber Fairness zu wahren. Die Entführung des 11-jährigen Jakob von Metzler vor vier Jahren war ein solcher Fall. Als noch Hoffnung bestand, dass das Kind am Leben ist, setzte der damalige Frankfurter Polizeipräsident den Entführer psychisch mit einer Folterandrohung unter Druck. Er hat sich damit nicht nur ein Strafverfahren, sondern auch Verständnis eingehandelt. Das Mitgefühl war auf Seiten der Eltern des entführten Kindes.

Der Fall von Karen Gaucke und ihrer Tochter Clara ist nicht ganz so dramatisch. Hier gibt es kein Leben mehr zu retten, denn es steht außer Frage, dass die beiden tot sind. Und trotzdem wünscht sich Rechtsanwalt Matthias Waldraff aus Hannover manchmal insgeheim, er würde ins Untersuchungsgefängnis vorgelassen und könnte Michael P. endlich, endlich fragen, wo er die Leichen seines Kindes und der Ex-Freundin versteckt hat. Seit mehr als drei Monaten werden die 39-jährige Karen Gaucke und ihre sieben Monate alte Tochter Clara vermisst. Es gibt Blutspuren und Indizien, die auf Michael P. als Mörder weisen, doch Spuren zu Karen Gaucke und Clara gibt es nicht. „Wir fühlen uns wie gefoltert“, sagen die Eltern der Vermissten.

Karen und Clara Gaucke verschwinden am 15. Juni 2006. Am Abend, um kurz nach halb acht, hat Karen noch mit einer guten Freundin telefoniert. Sie erzählte, dass sie um 20 Uhr mit ihrem Ex-Freund Michael P. verabredet sei. Dem wolle sie endlich mal „richtig die Meinung sagen“, kündigte sie an, denn seit Monaten stritt das Paar um den Unterhalt für das gemeinsame Kind. Dann reißt die Geschichte für zwei Stunden ab. Niemand weiß, was in dieser Zeit geschehen ist. Michael P. trifft um 22 Uhr bei Freunden in der Waldgaststätte Bischofshol ein und guckt die zweite Halbzeit des WM-Spiels Schweden gegen Paraguay. Karen Gaucke und Clara werden nie mehr gesehen.

Die 39-Jährige, die aus Freiburg stammt, arbeitete als Controllerin beim Reisekonzern TUI. Michael P. war bei einer Tochtergesellschaft beschäftigt. Im Dezember 2004 lernen sie sich auf einer Reise kennen. Die Beziehung dauert zwei Monate, da stellt Karen Gaucke ihre Schwangerschaft fest. Sie glaubt an eine gemeinsame Zukunft als Familie, als sie erfährt, dass eine ihrer Kolleginnen ebenfalls von Michael P. schwanger ist. Bevor Clara am 7. November 2005 geboren wird, trennt sich Karen Gaucke von Michael P. Der zieht mit seiner anderen Freundin zusammen und bekommt zwei Monate nach Claras Geburt noch einen Sohn.

Die Eltern von Karen Gaucke, die in Freiburg leben, haben den Vater ihrer Enkeltochter noch flüchtig kennengelernt. Sie sahen einen Mann, der zärtlich mit seiner kleinen Tochter spielte. Die Mutter, Gabriele, wollte zunächst nicht glauben, dass er auch Clara getötet haben soll. Es gab Indizien, die die vage Hoffnung erlaubten, dass zumindest das Baby noch lebt. Während die Polizei Blut von Karen Gaucke in deren Wohnung fand, fehlten der Babysitz fürs Auto und andere Babyutensilien. Clara könnte die Wohnung lebend verlassen haben, hofften die Großeltern zunächst, doch mit der Zeit ist auch der letzte Funken Hoffnung zerstoben. „Es gibt überhaupt kein Anzeichen dafür, dass die beiden noch leben“, sagt der Anwalt der Gauckes, Waldraff. „Es wäre fatal, den Glauben daran aufrecht zu erhalten.“

Doch wie soll man sich mit dem Tod der liebsten Angehörigen abfinden, wenn dafür der letzte Beweis fehlt? Die Eltern haben in offenen Briefen an Michael P. appelliert, den Fundort von Karen und Clara zu verraten. Sie haben ihn in einer Fernsehsendung angefleht. „Sag es doch“, haben sie gebettelt, „damit wir wenigstens trauern können.“

Michael P. schweigt. Die Indizien aber sprechen gegen ihn. In der Wohnung der Verschwundenen hat die Polizei eine Blutlache entdeckt. Die Analyse bestätigte: Es ist das Blut von Karen Gaucke. Kurz darauf konnte die Kripo Turnschuhe von P. sicherstellen, auf denen ebenfalls Blutspritzer der 39-Jährigen sind.

Am Mittag des 15. Juni, hat die Kripo ermittelt, ist Michael P. mit dem Zug nach Braunschweig gefahren, um sich bei einer kleinen Autovermietung einen Toyota Kombi zu leihen – obwohl er ein ähnliches Auto besitzt. Zwei Tage später hat er den Wagen zurückgebracht. Die Polizei hat das Fahrzeug untersucht und auch dort DNA-Spuren von Karen Gaucke entdeckt.

Für die Staatsanwaltschaft steht fest, dass er seine frühere Freundin und die Tochter ermordet hat. Sie hat Anklage erhoben. „Der 37-Jährige hatte den Plan gefasst, Karen Gaucke zu töten, weil diese seiner persönlichen Lebensplanung im Weg stand“, beschrieb Staatsanwalt Thomas Klinge das vermutete Motiv.

Die Anklage war bereits erhoben, da wurde ein weiteres Indiz bekannt: Etwa vier Wochen vor dem vermuteten Tatzeitpunkt hat Michael P. versucht, im Internetauktionshaus ebay ein Bolzenschussgerät zu ersteigern wie es auf Schlachthöfen verwendet wird. Den Zuschlag erhalten hat er laut Staatsanwaltschaft nicht. Dass ein Bolzenschussgerät die Tatwaffe war, sei „Spekulation“, so ein Sprecher. Michael P. hatte noch versucht, die Dateien über die Versteigerung auf seinem Computer zu löschen. Experten der Polizei haben sie dennoch rekonstruieren können.

Als Beschuldiger zu schweigen, ist das Recht von Michael P. Es bringt die Angehörigen der Opfer in eine Situation, in der der mutmaßliche Täter noch nach dem Mord größte Macht über sie hat. Sie mussten einen Mann um Informationen anflehen, von dem sie glauben, dass er ihnen das Liebste genommen hat. Aus ihrer defensiven Haltung können sie erst entkommen, wenn der Prozess gegen Michael P. eröffnet wird. Ein Termin steht noch nicht fest, wird aber wohl noch in diesem Jahr angesetzt. Die Eltern haben sich vorgenommen, am Verfahren teilzunehmen, „aktiv“, wie ihr Rechtsanwalt sagt. Ob und welche Strafe dabei herauskommt – es sei ihnen egal. Sie wollten endlich wissen, was passiert ist und warum, nichts anderes zählt.

Ihr Anwalt hat ihnen versprochen, im Prozess alle Möglichkeiten zu nutzen, um das Geheimnis aus Michael P. herauszubekommen. Waldraff glaubt, dass es ihm von Angesicht zu Angesicht gelingen wird. „Wir haben die Chance der unmittelbaren Konfrontation“, sagt er. Im Saal den Angehörigen gegenüberzusitzen, sei eine starke psychologische Auseinandersetzung auch für den Tatverdächtigen. Die Eltern bereiten sich intensiv darauf vor. Täglich haben sie mit ihrem Anwalt Kontakt. „Der juristische Anteil“, sagt der, „liegt hier vielleicht bei 50 Prozent.“

Die Polizei fahndet immer noch intensiv nach Karen und Clara Gaucke. Mehr als ein Dutzend Mal haben Polizisten mit Leichenspürhunden Waldgebiete durchkämmt oder mit Tauchern und Sonarboot Gewässer abgesucht. Auf der Suche nach den beiden haben die Fahnder inzwischen zwei andere Leichen gefunden. Ende September wurden bei der 22. Suchaktion im Mittellandkanal die sterblichen Überreste eines Mannes entdeckt, der mehrere Wochen tot im Wasser gelegen hatte.

Am 29. August hatte die Kripo in einem See bei Salzwedel die Leiche eines jungen Mannes entdeckt, der als Dirk S. identifiziert werden konnte. Der damals 19-Jährige wurde seit 1992 vermisst. Dessen Angehörige sind erst jetzt, 14 Jahre später, aus ihrer Ungewissheit erlöst.