berliner szenen Das Alphabet der Stadt

V wie Valentinswerder

Eine Reise ins Auge der Stadt. Schon die Busfahrt ist hübsch, im Doppeldecker geht es durch sonnendurchströmte Alleen über Konradshöhe nach Tegelort. Ein goldener Oktober. Wasser sehen, auf einer Insel stehen, das ist das Ziel dieser Reise. In Tegelort heißen die Straßen nach verflossenen Liebschaften, der Bus ankert an der Friederikestraße, die „Rixdorfer Fassbrause“ am Strandkiosk kostet so viel wie die Fähre, nämlich 80 Cent.

Ohne die neue Geliebte auf die Insel der Verliebten. Macht nichts. Valentinswerder ist eine kleine Flussinsel im Havelsee, die nach dem Schnapsbrenner Valentin Lemke benannt wurde, der im Rausch vor seiner Insel ertrunken ist. Auf der Fähre hebt man die Gläser und streut Blumen aufs Wasser.

Auf der Insel gibt es keinen Asphalt. Es gibt nur Sommerhäuser, die manchmal eher Hütten sind, rauschende Bäume und eine alte Frau mit Schubkarre auf dem Weg durchs Heckenrondell in der Inselmitte. Parkbänke, auf denen die Namen ihrer Stifter stehen. Ein Campingplatz, ein Segelverein, ein Mann mit Spitz. Eine Kolonie stummer Gartenzwerge. Gigantische Libellen ziehen durchs Rondell. Überall segeln Mücken durch die Lichtstreifen, ein letzter Tanz vor dem Winter.

Valentinswerder ist ein unwahrscheinlicher Ort, der fast so ist wie die Liebe: zu schön, zu idyllisch, um wahr zu sein. Gleichsam Angst einflößend durch all die kleinen Unheimlichkeiten in den Büschen und Sträuchern, durch die bestechende Anzahl der Insekten, die die Insel fest im Griff haben. Lang hält man’s nicht aus. Die letzte Fähre geht um sieben, ab Mitte Oktober um sechs. Neben der Anlagestelle liegt die „Santa Maria“ vertäut. Ein letztes, schwankendes Bild, bis die „Odin IV“ wieder zum Festland übersetzt. RENÉ HAMANN