Heilende Ankunft

Oksana Tschussowitina (31) ist im Eilverfahren Deutsche geworden. Bei der WM in Aarhus turnt sie für den DTB

AARHUS taz ■ Manchmal nehmen denkwürdige Tage ein denkwürdiges Ende. Der vergangene Dienstag war für die Turnerin Oksana Tschussowitina ein solcher Tag. Am Vormittag hatte das Exekutivkomitee des Weltturnverbandes FIG der 31-Jährigen das Startrecht für die deutsche WM-Riege erteilt, abends saß sie in ihrem Hotelzimmer im dänischen Aarhus und führte ein Telefongespräch nach dem anderen. Bei Kerzenlicht. Weil im Hotel des deutschen Mannschaftshotels der Strom ausgefallen war. „Unglaublich“, sagte Tschussowitina in gebrochenem Deutsch und aus ihrer Stimme sprach so etwas wie ein lange nicht gekanntes Glücksgefühl: „Nach 13 Jahren habe ich jetzt wieder eine richtige Mannschaft.“

Kampf gegen Leukämie

Es war schnell gegangen in den letzten Tagen. Vor knapp einer Woche hatte die Frau aus Usbekistan in Köln ihren deutschen Pass bekommen. Mit diesem Pass und einer Einverständniserklärung des usbekischen Turnverbandes hatte sie am Montag bei der FIG vorgesprochen. Und schon einen Tag später gab der Weltverband grünes Licht: Bei der heute in Aarhus beginnenden Turn-WM darf Tschussowitina für Deutschland an die Geräte gehen. „Ich bin sicher, die ganze Turnwelt wird ihr das gönnen“, sagte die deutsche Cheftrainerin Ulla Koch, die dadurch eine Weltklasseturnerin gewinnt. Aber das ist nicht der Grund, warum die internationale Turngemeinde Tschussowitina so große Sympathien entgegenbringt; das hat mit folgender Geschichte zu tun: Im November 1999 hatte Oksana Tschussowitina ihren Sohn Alischer zur Welt gebracht. Danach turnte sie weiter. Zum Spaß und zum Beweis, dass in einer Sportart, die von jungen Mädchen dominiert wird, auch junge Mütter Weltklasseleistungen bringen können. Als ihr Sohn zweieinhalb Jahre später an Leukämie erkrankte, musste sie weiter turnen. Immer weiter, um mit ihren Preisgeldern die 120.000 Euro teure Behandlung finanzieren zu können. Im Oktober 2002 beschloss die Turnerin, nach Köln überzusiedeln, wo der Biomechanik-Professor und Turntrainer Peter Brüggemann für ihren Sohn einen Platz in der Uni-Klinik besorgt und gleichzeitig für die Behandlungskosten gebürgt hatte. „Die Situation war extrem schlecht, es ging um Leben und Tod“, erinnert sich Oksana Tschussowitina.

Zwei Jahre verbrachte Alischer in der Klinik. Jetzt gilt er als geheilt und muss alle drei Monate zur Blutuntersuchung ins Krankenhaus. „Heute ist er ein aufgeweckter und verspielter Erstklässler, der davon träumt, Fußballer zu werden“, sagt die Turnerin. Und sie spricht davon, wie tief ihre Dankbarkeit gegenüber all denen sei, die geholfen hätten, „meinen Sohn ins Leben zurückzuholen“. Immer wieder waren bei turnerischen Großereignissen Spendenaktionen initiiert worden.

Schließlich hat sich Tschussowitina also dafür entschieden, Deutsche zu werden – „als Ergebnis von alldem, was mir und meiner Familie in den letzten vier Jahren passiert ist“, sagt sie. Eine Rückkehr nach Taschkent komme nicht in Frage, jetzt, wo alles gut geworden und auch ihr Mann, der usbekische Olympiaringer Bachadir Kurbanow, in Hürth in der Bundesliga angekommen sei. Dass die Einbürgerung von Spitzensportlern aus dem ehemaligen Ostblock eine umstrittene Sache ist, kümmert sie nicht in ihrer neuen Heimat.

Diesen Part übernimmt Rainer Brechtken, der Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB), der sich dem Verdacht ausgesetzt sah, die Turnerin gedrängt oder gar dem usbekischen Verband Geld überwiesen zu haben. „Das kann ich dementieren“, sagt Brechtken, „wir gehen auf niemanden zu und drängen niemanden.“ Die Turnerin habe Deutschland als Lebensmittelpunkt gewählt und der Verband habe sie unterstützt.

Chancen beim Sprung

Klar ist aber auch, dass der DTB nun bei der WM in Aarhus in der vergleichsweise komfortablen Situation ist, in Fabian Hambüchen (Reck) und Tschussowitina (Sprung), die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer als Einzelstarterin an die Geräte gehen musste, gleich zwei Turnkünstler mit Medaillenchancen in seinen Reihen zu haben. Das gab es schon lange nicht mehr in dieser Sportart, deren langen Dornröschenschlaf erst Hambüchen mit seinem Olympia-Auftritt 2004 in Athen und dem EM-Titel am Reck 2005 beendet hatte. „Ich gehe davon aus, dass unsere jungen Turnerinnen jetzt noch motivierter sind“, sagt Koch, die Cheftrainerin. Mit Oksana Tschussowitina steigt nämlich auch die Chance, dass sich bei der WM 2007 in Stuttgart mal wieder eine deutsche Frauenriege für Olympische Spiele qualifizieren kann. JÜRGEN ROOS