„Bei Kevin wurde nicht richtig hingeguckt“

Die SPD-Abgeordnete Margitta Schmidtke betreut seit 41 Jahren Kinder, die aus ihren Familien genommen wurden

taz: Auf welchem Wege kamen die Pflegekinder zu Ihnen?

Margitta Schmidtke: Angesprochen wurde ich vom Kinderzentrum, von Eltern, vom Jugendamt. Ohne die Pflegeerlaubnis des Jugendamtes darf aber kein Mensch ein fremdes Kind bei sich aufnehmen.

Das bedeutet: Sie haben 40 Jahre Erfahrung mit dem Bremer Jugendamt?

Ja, und mit anderen Jugendämtern.

In der aktuellen Diskussion nach dem Tod des knapp dreijährigen Kevin geht es um die Frage, ob den Jugendämtern zu enge finanzielle Grenzen gesetzt werden.

Ich weiß, dass es im Fall Kevin nicht um Geld ging, sondern dass nicht richtig hingeguckt wurde.

Passiert so etwas öfter?

Mitarbeiter des Jugendamtes sind Menschen und Menschen gucken unterschiedlich. Ein Kind in eine Pflegefamilie zu geben ist allemal preiswerter als eine Heimunterbringung. Ein Kind bei den überforderten Eltern zu lassen ist kurzfristig billiger als eine Fremdplatzierung, auf lange Sicht kann das aber richtig teuer werden. Ich hätte mir bei manchen der Kinder, die ich groß gezogen habe, gewünscht, dass sie früher aus den Familien herausgenommen worden wären. Ich habe jetzt ein Kind in meinem Haus, das ist im Alter von drei Wochen schwer von seiner Mutter misshandelt worden. Nach seiner Genesung ist das Kind wieder in das Elternhaus zurückgegeben worden und ist nachweislich weiter misshandelt worden. Bis die Mutter selbst erklärt hat: Nehmen Sie ihn weg, sonst schlage ich ihn tot. Erst dann ist er zu uns gekommen. In dieser Familie gibt es mehrere Kinder, das Gericht hat eine Betreuung angeordnet, also Kontrolle, aber der Vater hat den Familienhelfern irgendwann den Zutritt verweigert. Die sind dann nicht mehr gekommen.

Wieso das?

Die Rechte der Eltern sind bei uns sehr stark, die Rechte der Kinder nicht so sehr.

Warum zögert das Jugendamt, ein Kind aus einer Familie herauszunehmen?

Kinder, auch wenn sie misshandelt werden, hängen an ihren Familien. Trotz alledem. Sie klammern. Wenn Sie in einem akuten Fall ein Kind in ein Heim geben, bedeutet das immer eine zusätzliche Krise für das Kind – mit offenem Ausgang. Denn Sie wissen ja nicht, wie das Familiengericht später entscheidet.

Abgesehen von persönlichen Fehlentscheidungen einzelner Sozialarbeiter: Welche Strukturen müssen jetzt verändert werden?

Sozialarbeiter müssen die Kinder kennen, für die sie zuständig sind, müssen sich selber ein Bild machen. Bei meinen Pflegekindern ist das so. Da kann ich den Sozialarbeiter auch mal anrufen und sagen: Ich habe da ein Problem, Sie müssen mir helfen. Das ist eine optimale Betreuung.

Im Fall Kevin haben die Sozialarbeiter über fünf Monate das Kind nicht gesehen?!

Da ist richtig etwas schief gelaufen. Ich kenne keinen anderen derartigen Fall, ich finde das dramatisch.

Da wurde Geld gespart.

Nein. Darum ging es nicht. Uns wurde in der Sozialdeputation immer glaubhaft versichert, dass immer – unabhängig von Budget – gesichert war, dass alle Rechtsansprüche eingelöst werden, und zwar ohne Wenn und Aber. Das Kind hat einen Rechtsanspruch auf Geborgenheit und Inobhutnahme, im Krisenfall. Keinem Kind darf eine Hilfe verweigert werden, weil das Budget alle ist. Fragen: K. Wolschner