Der Don vom Bahnübergang


Die Medien lieben diese urige Ruhrgebietstype so wie er sie, Alfred Konter macht schon immer gern ein bisschen Show

VON ANNE HERRBERG

Ein „Don“ vor dem Namen tragen eigentlich nur Adlige oder Priester. Außer in Gelsenkirchen, da wird der Ehrentitel auf der Straße erkämpft. Vor allem, wenn man aus Schalke kommt. So wie die königsblauen Ikonen oder Alfred Konter. Und weil Letzterer damals nicht so gut Fußball spielen konnte wie seine Schulkameradenschaft – „der Szepan und der Kuzorra“ –, da hat er sich eben ein anderes Feld gesucht, um in die Geschichte einzugehen.

Das liegt nur einen kräftigen Abschlag vom Schalke-Stadion entfernt, das jetzt Veltins-Arena heißt, und ist knapp 20 Quadratmeter groß: ein Bahnwärterhäuschen, direkt am ehemaligen Übergabebahnhof der Zeche Hugo gelegen, wo im Jahr 2000 endgültig Schicht im Schacht war. Riesige Waggons voll rußender Kohle stampften hier mehrmals täglich durch zum sechs Kilometer entfernten Hafen. An Alfred Konter mussten die Lokführer alle vorbei, mussten rufen: „Don Alfredo, kapp‘ die Seile!“, damit der den Verkehr auf der Horster Straße stoppte und die Schranken runterkurbelte. Für ein „Don“ vor dem Namen reicht das natürlich nicht, auch wenn die Schranken Zentner wogen und Konter, ein drahtiges Fliegengewicht von knappen 1 Meter 80, keine zwei Minuten für die Abfertigung brauchte.

Das „Don“ hat er sich in seinen 77 Jahren kontinuierlich erarbeitet. Und deswegen darf er an diesem Nachmittag auch zehn Mal sagen: „Jeder ist seines Glückes Schmied. Und ich habe alles erreicht.“ Alles, das ist für Konter sein Bahnhäuschen, das eigentlich schon zwei Mal abgerissen werden sollte. Aber es steht noch, dazu frisch renoviert, und über der Tür prangt fett die Aufschrift „Industriedenkmal“. Reisebusse aus dem In- und Ausland machen hier Stopp, sogar Hochzeiten wurden bei Konter schon gefeiert. Der Bahnwärter und sein Häuschen sind Kult.

Drinnen stapeln sich tonnenweise Nippes und Werkzeuge, an den Wänden Zeitungsartikel über und Fotos von Alfred Konter. Jeden Samstag kommen seine „Kollegen“ vorbei, Bergmannslieder werden gesungen, so manches Bierchen getrunken und Geschichten aufgewärmt. Davon gibt es genug. Zum Beispiel wie Konter als Kind Extra-Sitze in die prall gefüllte Glückaufkampfbahn schleppte, „damit alle das Spiel sehen konnten“. Aber auch um damit mehrere Pfund Butter und Speck zu verdienen. Oder wie er durch seine Beharrlichkeit fünf Arbeitsplätze im Bahnbetrieb gerettet, sich dafür aber mit der Gewerkschaft angelegt hat: „Zwei Mal habe ich das Mitgliedsbuch zurückgegeben.“ Oder wie er, der ja ursprünglich Lokführer war, überhaupt zum Bahnhäuschen gekommen ist. Gut, Versetzung wegen Betriebsunfalls, doch Konter winkt ab: „Halb so schlimm“ und noch lange kein Grund, ihn zwei Lohngruppen ‘runterzustufen. „Nee, nee, das waren die von der Zeche Westerholz, die haben da eine Investition von hunderttausenden von Mark gemacht, die völlig überflüssig war und nichts gebracht hat.“ Er hat sich offen dagegen gestellt: „Ich kann das nicht haben, wenn Leute unsere Steuergelder zum Fenster rausschmeißen.“ Sein Zeigefinger tippt mehrmals auf die Tischplatte.

Seitdem ist Konter Bahnwärter. Und das Häuschen seine Welt. Hier hat er Doppelschichten geschoben, bei Eis und bei Schnee, hat die Nachbarinnen mit eigenhändig gepflanzten Rosen aus dem Vorgarten betört, die anderen damit, dass er die Schranke möglichst lautlos runterkurbelte. Und die Kinder mit einem „Schwimmingpool beglückt“, den er im hinteren Teil des Grundstücks aushob. Dabei hat er leider eine Erdleitung angegraben. Als es Ärger von der Stadtverwaltung gab, zeigte er sich empört und überzeugte alle Beteiligten, dass es sich dabei um einen Senkungsschaden durch den Bergbau handele. Da grinst er noch heute. Und setzt zur nächsten Geschichte an, der kleine Mann ist nicht zu stoppen. „Ich bin immer unterwegs.“ Was denn seine Frau dazu sagt?. „Anfangs hat sie schon mal gemeckert, musst du denn schon wieder weg“, sagt Konter und lehnt sich zurück. „Aber zu Mittag, da komm ich ja immer heim.“ Über 50 Jahre sind die beiden verheiratet, haben sechs Kinder, das Jubiläum wurde im Häuschen gefeiert. Urlaub davon gibt es jedes Jahr einmal, „aber nicht länger als zehn Tage, dann zieht es mich wieder zurück ins Ruhrgebiet, zum Häuschen, den Kollegen.“

Konter lehnt in der Tür und schaut auf seinen ordentlich gepflegten Rosengarten, der tapfer letzte Farbtupfer gegen den grauen Herbsthimmel setzt. Ab und an hebt er die Hand, grüßt fröhlich jeden Passanten – wer Konter nicht kennt, muss frisch zugezogen sein. Und weder fern sehen, noch Zeitung lesen. Denn die Medien lieben diese urige Ruhrgebietstype genauso wie er sie. Konter macht schon immer gern ein bisschen Show. Früher bei den Karnevalsveranstaltungen, wenn er als „Schwarze Lola“ verkleidet im Bananenrock getanzt hat. Und heute, wenn er mit Bahnwärtermütze und Jacket gegen Baubehörden rebelliert. Gewitzt hat er die Medien eingesetzt, in seinem Kampf gegen die verbohrten Bürokraten, die nicht einsehen wollten, dass das Häuschen zu Gelsenkirchen gehört wie Fußball oder Currywurst. Und gegen die Abrissbagger, die immer wieder gegen seine kleine Welt angerückt sind: das erste Mal – Konter war gerade in den Vorruhestand getreten –, als der Übergabebahnhof automatisiert werden sollte. Da listet er fein säuberlich auf, dass ein maschinell geregelter Übergabebetrieb erstens unsicher ist und zweitens länger dauert. „Da wären die Waggons fünf Minuten länger auf der Horster Straße gestanden.“ Also hat Konter eine Anti-Abgas-Kampagne in den Zeitungen gestartet – heute würde er es Anti-Feinstaub-Kampagne nennen – und hat der Pensionierung zum Trotz weitergearbeitet. „Weil ich das eben am besten konnte!“

Zwei Jahre später flattert ihm wieder ein Abrissauftrag ins Haus. Konter stellt sich beim „Tag der offenen Tür“ der Zeche Hugo in voller Bahnwärtermontur vor den Schacht und sammelt Unterschriften für den Erhalt des „letzten kulturhistorischen Denkmal-Bahnwärterhäuschens“. Und als die Zeche im Jahr 2000 dann dicht macht, warten die Bagger schon wieder. „Ich stand da mit Tränen in den Augen“. Aber nicht wirklich lange. Konter mobilisiert den Bürgerverein und steigt den Verantwortlichen aufs Dach. Vielleicht hat auch sein Hinweis, dass die angrenzende Rungenberghalde metertief kontaminiert sei, einen Teil dazu beigetragen, dass der Regionalverband Ruhr sich schließlich bereit erklärt, das Häuschen zu übernehmen und zu erhalten.

Konter ist ein freundlicher Zeitgenosse, aber wenn es um sein Häuschen geht, bleibt er eisern. Das verdient einen „Don“ und noch weitere Anerkennungen. Für anstehende Renovierungen erhält Konter immer und überall Sponsorengelder, für sein Engagement hat er bereits mehrere Medaillen verliehen bekommen. Das Häuschen ist vom Deutschen Steinkohleverband mittlerweile in die Liste der wichtigsten Industriedenkmäler des Ruhrgebiets aufgenommen worden, neben Zeche Zollverein, Jahrhunderthalle und Zeche Heinrich. Don Alfredo, ein Gelsenkirchener Underdog, schafft es unter die ganz Großen. Sein Stolz ist nicht zu übersehen.

Auch er selbst hat in seinem mittlerweile berühmten Denkmal jemandem ein Denkmal gesetzt. Es ist in schwarze Kohlensteine gefasst und steht im Rosenbeet: „für Alex, das letzte Grubenpferd, verstorben 1949“. Bahnwärter Alfred Konter hatte in seinem Leben zwar alle erdenklichen Jobs, aber unter Tage, wie sein Vater, war er nie. Grubenpferd Alex hat seine Statue Konters Herz für Tiere zu verdanken. „Die Pferde haben die schwerste Arbeit geleistet und wurden nie gefragt.“

Überhaupt ist in Konters Herz viel Platz für alles, was lebt und arbeitet. Sogar wenn es „Verräter“ betrifft. Und das hätte ihm einmal beinahe das Leben gekostet. Im letzten Kriegsjahr arbeitet der damals 16-Jährige im Chemielabor der Mannesmannwerke. Sein Butterbrot gibt er dort immer den „ukrainischen Jungs“. „Die waren ja froh, wenn sie was bekamen, mit denen war ja verboten zu reden!“ Alfred Konter tut es trotzdem und wird von einem gleichaltrigen Kollegen verpetzt: „dem Verräter“. Er kriegt prompt Ärger vom Vorarbeiter: Noch mal und du kommst an die Front, sagt der streng, schickt dann aber doch lieber den „Verräter“, weil „mich eben immer alle sofort gerne leiden mochten“, erklärt sich Konter diese Entscheidung.

Doch dann bekommt er Mitleid mit seinem Arbeitskollegen, tauscht kurz entschlossen den Einzugsbefehl und wäre beinahe schon los an die immer näher rückende Front. Hätte ihn seine Mutter nicht beim Schlawittchen gepackt und gesagt: „Dein Bruder ist schon gefallen.“ Sowieso muss die Familie damals einige Schicksalsschläge einstecken. Der Typhus raubt Konter zwei Schwestern, er selbst überlebt knapp. Also befiehlt ihm die Mutter kurz vor Kriegsende: „Bleib du jetzt zu Hause. Der Tommy steht doch eh schon vor der Tür.“ Konters Bataillon wird bis auf den letzten Bub aufgerieben, er selbst hat auf die Mutter gehört und ist in Gelsenkirchen geblieben. In der Woche darauf ist der Krieg zu Ende.

Wenn er an all das zurückdenkt, kommen ihm noch heute Tränen in die sonst so fröhlich zwinkernden Augen. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, sagt Alfred Konter noch einmal. In seinem Fall hatte er für seine Rüstung gutes Material zur Verfügung. Und konnte es immer so hinbiegen, dass es passte. Doch was wird in Zukunft aus seinem Königreich? Immerhin ist er mittlerweile 77 Jahre alt. Konter überlegt kurz, rechnet nach und lacht und winkt ab: „Dann bleiben ja noch 27 Jahre!“ Er lehnt sich zurück und zwinkert. „Ich werde doch 100 und 4“, sagt er dann langsam. Und tippt bedeutungsschwer auf den königsblauen Anstecker am Revers seines Jackets: Don Alfredo Schrägstrich Schalke 04 steht da.