Die Überwinder der Zeit

RUNDFUNK Des Programmradios wichtigste Aufgabe ist es, sein Publikum geistig ins Stolpern zu bringen

Wir können heute Radio- oder Fernsehsendungen „on demand“ im Internet abrufen. Es stellt sich also die Frage, ob man in Zukunft überhaupt noch ein Tagesprogramm braucht oder ob man nicht einfach – in regelmäßigen Abständen – die neue „Ausgabe“ einer Sendung ins Internet stellt. Gegen die Ausschließlichkeit dieser Zukunftsvision spricht vor allem unsere Sehnsucht nach Struktur.

Innere Uhren begleiten uns im Alltag. Diejenigen Menschen, die kurze Tage leben, wachen im normalen Leben ohne Wecker morgens schon früh und ausgeschlafen auf. Sie sind die Frühtypen, die Lerchen unserer Gesellschaft. Menschen mit langsameren Uhren schlafen später ein und wachen später auf – wenn man sie lässt. Der Wechsel von Tag und Nacht stellt alle inneren Uhren auf genau 24 Stunden. Dennoch, je langsamer die innere Uhr eines Menschen tickt, desto „eulenhafter“ ist sein Leben.

Die Möglichkeit, eine Sendung im Internet abrufen zu können, ist eigentlich nur eine neue Form der alten Aufzeichnungskultur. Sie erlauben uns, die Zeit zu überlisten. Menschen brauchen wie alle Lebewesen Struktur in ihrer Umwelt, sowohl räumlich als auch zeitlich. Sie erlauben uns die Welt zu erkennen, zu begreifen und vor allem auch vorauszusagen. Strukturlosigkeit macht uns Angst, gewohnte Strukturen zu überlisten macht uns glücklich. Dieses Glücksgefühl würde uns durch einen Wechsel vom Tagesprogramm zur Abrufkultur genommen.

Aber selbst ein Abrufprogramm kann sich zeitlichen Strukturen nicht entziehen, denn es müsste ja irgendwann ins Netz gestellt werden. Wer am Sonntag den „Tatort“ verpasst hat, kann diesen „Fehler“ mittlerweile durch die Mediathek wieder gutmachen. Würde der neue „Tatort“ zu irgendeinem Zeitpunkt der Woche ins Netz gestellt, schafften die Netztechniker damit einfach nur eine neue Sendezeit. Die „Tatort“-Gemeinde würde die neue Zeitstruktur sofort erkennen – und die ARD-Server würden zusammenbrechen. Um das zu vermeiden, könnten sie die Sendung natürlich auch um vier Uhr früh in Netz stellen. Dann würden die extremen Lerchen die Sendung „live“ sehen und die Eulen sie am gleichen Abend runterladen – würde dies um Mitternacht geschehen, wäre es umgekehrt. Es würde sich also eigentlich nichts ändern.

Wichtige Sendungen werden daher zu Zeiten ausgestrahlt, zu denen man die verschiedenen Zeittypen – von Lerchen bis Eulen – in einem mehr oder weniger ausgeprägten Wachzustand erreicht.

Die Konkurrenz des selbst gewählten, heruntergeladenen „Programms“ besteht bereits seit Jahren in Form von iPods und Podcasts. Doch wann bedienen wir uns dieser Möglichkeiten? In der U-Bahn, beim Joggen oder auf dem Fahrrad – also immer dann, wenn die Strukturen unserer Umwelt vorübergehend und daher für unser Gehirn nicht so wichtig sind. Im Gegensatz dazu ist das Radio für viele Menschen ein akustischer Lebenshintergrund – im Bad, in der Küche, im Auto oder auch am Arbeitsplatz.

Dieser Hintergrund ist Teil der gewohnten Territorien – zu denen auch das Auto gehört – und muss daher wie dieses eine Struktur haben. Wir schenken unserer gewohnten Umgebung selten gezielte Aufmerksamkeit – außer wenn sich etwas verändert, wenn wir auf etwas aufmerksam werden, wenn wir über etwas stolpern. Dieses „Stolpern“ ist die wichtigste Aufgabe des Programmradios.

Plötzlich fängt ein Stichwort, ein Satz, ein Thema oder ein Musikstück unsere Aufmerksamkeit – der Hintergrund wird zum Fokus und wir machen unmittelbare Erfahrungen, deren Inhalte wir nie im Internet gesucht und heruntergeladen hätten.

TILL ROENNEBERG

■ Der Autor ist Professor am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dieser Text ist Teil einer Kooperation der taz mit „Mehrspur“ dem Medienmagazin des Radiosenders SWR2.