Boykott der Gesundheitslobbyisten

Die Lobbygruppen machen Ernst und bleiben der Anhörung des Gesundheitsministeriums zur Gesundheitsreform fern. Ärztevertreter Montgomery spricht von Pseudodemokratie. Er fordert die komplette Rücknahme der Reform

BERLIN taz ■ Die Gesundheitsreform spaltet die Gemüter: „Hallo Herr Hansen, für die AOK hier?“ Nein, nein, Volker Hansen wehrt den Frager lächelnd ab. „Heute nur Arbeitgeberverband.“ Volker Hansen arbeitet für die Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände und sitzt als deren Vertreter auch im Verwaltungsrat des Bundesverbands der Allgemeinen Ortskrankenkassen. Diese beiden und über 90 weitere Verbände hatte das von Ulla Schmidt (SPD) geführte Gesundheitsministerium gestern nach Berlin geladen und um Stellungnahmen zum Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform gebeten. Doch sein AOK-Selbst hat Hansen in Bonn gelassen, denn die größte deutsche Krankenkasse boykottiert die Anhörung. Auch die Vertreter der anderen großen Krankenkassen, der wichtigsten Ärzte- und Klinikverbände blieben dem Termin fern.

Den Boykott haben die Lobbygruppen einen Tag nach Erhalt der Einladung am Freitag vergangener Woche angekündigt. Diese kam gleichzeitig mit dem Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform. Vordergründig monierten die Verbandsvertreter, dass vier Tage zu wenig seien, um den 542 Seiten umfassenden Papierberg durchzuarbeiten. „Wir hatten keine Zeit, seriös Stellung zu nehmen“, sagt die Vorsitzende des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen (VdAK), Doris Pfeiffer, die auch zu den Boykotteuren gehört, zur taz.

Die Veranstaltung ist ein Pflichttermin, den das Ministerium nach gemeinsamer Geschäftsordnung der Bundesministerien abhalten muss. Das Erscheinen ist allerdings freiwillig. So verteilt sich am Termin der Anhörung nur eine überschaubare Menge von etwa 30 bis 40 Menschen auf die vierfache Anzahl von Stühlen. „In der Beratung geht es um gesetzestechnische Dinge, inhaltlich wird nichts verändert“, gibt eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums Auskunft.

Doch um Details geht es den Interessenverbänden nicht. Sie lehnen die Reform als Ganzes ab. Selten waren sich die unterschiedlichen Interessengruppen darin so einig. Volker Hansen ist nur gekommen, weil er ein höflicher Mensch ist. Er hat die politische Stellungnahme des Arbeitgeberverbandes verteilt: Gesundheitsreform verfehlt alle wesentlichen Ziele. Zum Beispiel die Entkopplung der Gesundheitskosten von den Löhnen. „Insofern ist die Veranstaltung hier für die Katz“, meint Hansen.

Das meinen auch die Arbeitnehmer. Der Chef der Krankenhausärztegewerkschaft Marburger Bund, Frank Ullrich Montgomery, ist nicht erschienen. Zur taz sagt er: „Das ist Pseudodemokratie.“ Sein Ratschlag: „Die Reform sollte komplett zurückgenommen werden. Sie ist mit heißer Nadel gestrickt.“ Als Arzt ist Montgomery dagegen, dass Krebskranke, die Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnehmen, durch höhere Zuzahlungen gestraft werden, ähnlich wie beim Zahnersatz. „Wir sind grundsätzlich dafür, Eigenverantwortung zu stärken, aber das schießt weit übers Ziel hinaus.“ Eine tödliche Krankheit habe eine andere Qualität als Löcher in den Zähnen. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Elke Ferner hält Änderungen an den umstrittenen Reform-Plänen zur Krebsvorsorge für möglich.

Doch eine Rücknahme der Reform ist unwahrscheinlich. Nach langer, quälender Konsensfindung versuchen Union und SPD, das Gesetzespaket so schnell wie möglich durch die Instanzen zu lotsen. Am nächsten Mittwoch soll das Kabinett den Entwurf beschließen, am 27. Oktober ist bereits die erste Lesung im Bundestags geplant. Auch die Verbände werden dann wieder angehört. „Wir werden unsere Möglichkeiten natürlich wahrnehmen“, versichert die Chefin der Angestelltenkassen, Doris Pfeiffer. „Es ging uns nie um eine generelle Blockade.“ ANNA LEHMANN