Die eiserne Lady von Manipur

Ihre Haut ist blass, ihr Körper ausgezehrt und in der Nase hat sie seit zehn Jahren einen Infusionsschlauch: Die 38-jährige indische Menschenrechtsaktivistin Irom Chanu Sharmila ist an diesem 4. November seit zehn Jahren im Hungerstreik, oder genauer gesagt wird sie seit zehn Jahren zwangsernährt. Das soll ihr Protestfasten bis zum Tod verhindern.

Sharmila erklärte laut ihrem Bruder, der sie kürzlich in ihrem abgeschirmten Arrest in einem Hospital in Imphal, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Manipur, besuchte, sie werde ihren Hungerstreik fortsetzen, bis das Sicherheitsgesetz Afspa (Armed Forces Special Powers Act) außer Kraft gesetzt ist. Dies Sondergesetz von 1958, das auf die britische Kolonialzeit zurückgeht, gilt in Manipur wie in den anderen Unruhestaaten von Indiens Nordosten seit 1980. Allein in dem an Birma grenzenden Manipur kämpfen mehr als ein Dutzend Gueriallagruppen gegen die Regierung. 10.000 Menschen wurden in dem Konflikt in der letzten Dekade getötet.

Das Afspa gibt den Sicherheitskräften einen Freibrief für Menschenrechtsverletzungen und sichert ihnen quasi Straflosigkeit zu. Nach Meinung von Beobachtern fördert das Gesetz den Widerstand, den es eigentlich unterbinden soll. Die Regierung in Delhi geriet durch Sharmilas Hungerstreik, der sich an den Lehren Mahatma Gandhis orientiert, so unter Druck, dass sie 2004 eine Kommission zur Überprüfung des Gesetzes einsetzte. Die empfahl 2005 dessen Abschaffung, doch nichts geschah.

Da nach indischem Gesetz versuchter Suizid mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden kann, ermöglicht dies Sharmilas Festnahme und anschließende Zwangsernährung. Doch eben nur für ein Jahr. Nach jeder Freilassung hat Sharmila bisher den Hungerstreik fortgesetzt, was zu erneuter Festnahme und Zwangsernährung führte.

Begonnen hatte sie im Jahr 2000, nachdem Sicherheitskräfte an einer Bushaltestelle wartende Zivilisten massakriert hatten. Sharmila hatte zuvor Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, doch empfand sie dies als zunehmend nutzlos. Seit Beginn ihres beispiellosen Hungerstreiks gilt die in Manipur als „eiserne Lady“ bezeichnete Aktivistin als Volksheldin. SVEN HANSEN