PETER UNFRIED NEUE ÖKOS
: Und dann auch noch Goethe

Viel Konsum gibt’s nicht auf der Insel. Nur Strandlauf, Fahrradtour, Uno – und einen maulenden Adorno

Eine großartige Insel. Ohne Flugzeug erreichbar. Wahnsinnig schöner Kniepsandstrand für Spaziergänge, alles mit dem Fahrrad abfahrbar, köstliche Tofuschnitzel (mitgebracht), die Spätherbstsonne scheint. Alle sind glücklich. Sagte ich alle? Da kommt dieser Adorno im Schlafanzug dahergeschlurft. Das Erste, was er sagt: „Wir laufen doch bestimmt wieder an den doofen Strand?“ – „Unbedingt.“ – „Und was wollen wir da?“ – „Die Gezeiten erleben, den Wind spüren. So Zeug.“ – „Aha.“

„Aha“ heißt bei ihm: Er macht eine kurze Pause, um dann auf die nächste Quengelstufe hochzuschalten. „Was soll das bringen, am Strand rumzulaufen?“ – „Den Nutzen kann man nicht verallgemeinern, lieber Adorno“, sage ich. Von einem Zehnjährigen lasse ich mich doch nicht provozieren. „Das musst du für dich selbst entscheiden, was es dir bringt.“ „Aha“, knurrt Adorno, „also nichts.“

Penelope blickt von ihrem Buch auf und sagt mit ihrer Schulsprecherinnenstimme: „Dann sag doch mal, was du willst, Adorno.“ Er gibt ihr den Gleich-fress-ich-dich-Blick und knurrt dann in meine Richtung: „Sag ihr, dass sie die Klappe halten soll.“ Penelope (um Eskalation bemüht): „Würd mich nicht wundern, wenn der später mal in U-Haft sitzt, weil er jemand zusammengeschlagen hat.“ Adorno (tut erschüttert): „Das ist eine schöne große Schwester, die ihrem Bruder prophezeit, dass er später mal in U-Haft sitzt.“

Ich überlege, ob eine geschwisterliche Schlägerei konstruktiv sein könnte, entscheide mich aber dagegen. „Nun sag halt, was du willst, Adorno.“ „Ich will, dass wir die Fahrräder zurückgeben.“ Immer, wenn wir Fahrrad fahren wollen, schreit er nach dem Jugendamt. Wenn wir dann fahren, quäkt er: „Wie lange fahren wir noch?“ Und wenn wir uns dem Ferienhaus nähern, fragt er, wann wir die Fahrräder endlich zurückgeben.

Wir geben also die Räder zurück, stellen die Strandspaziergänge ein und spielen zu Hause stundenlang Uno. Bis er endlich auch mal gewinnt. Es ist so langweilig, dass wir irgendwann beschließen, ins Kino zu fahren. Mit dem Auto. Es läuft nur ein Film. Goethe. Penelope tut, als sei sie begeistert. Adorno will auf keinen Fall in den Goethe-Film. Das sei, sagt er und schaut demonstrativ zu seiner Schwester, ein „voller Streberfilm“. „Aaaah“, stöhnt er während der Vorstellung. „Tut dir was weh?“ Ob es noch lange dauere.

Wir fahren nach Hause und später sage ich zu Penelope: „Kommst du mit in den Buchladen?“ Klar kommt sie mit. „Du kannst hierbleiben, Adorno.“ Er wird blass vor Wut: „Ja, toll. Das ist wieder typisch. Alle gehen weg und ich soll hierbleiben.“ Im Buchladen sagt er zu mir: „Du bist doch schon ganz schön alt – oder?“ „Hm, hm, klar.“ „Wann, glaubst du, brauchst du einen Rollator?“ Einfach ist es mit diesem Sack weiß Gott nicht. Das Gute ist, dass ich sicher sein kann, dass er mein Sohn ist.

Der Autor ist taz-Chefreporter Foto: Anja Weber