Unterschicht muss warten

Linkspartei-Sozialsenatorin sieht „Chance für neue Diskussion über Armut“. SPD will in vier Wochen eine Programmdebatte über abgehängte Prekäre führen. Linker Parteiflügel kritisiert Müntefering

von ULRICH SCHULTE

Die Diskussion über eine Unterschicht, bisher nur im Bund geführt, ist im Senat angekommen. „Ich sehe die Chance für eine neue Debatte über Armut“, sagte Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linkspartei) gestern der taz. „Die aktuelle Diskussion muss in eine vernünftige Strategie der Armutsbekämpfung münden.“ Armut dürfe man nicht auf materielle Mittelzuweisungen reduzieren, wichtiger sei die gesellschaftliche Teilhabe armer Menschen, sagte sie.

Ihr für Bildung zuständiger Senatskollege, Klaus Böger (SPD), sagte, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Berliner in die Armut abrutschten. „Das, was man früher als ‚untere Mittelschicht’ wahrgenommen hat, ist jetzt eher auf dem Weg nach unten.“ Laut Bildungsverwaltung ist die relative Armutsquote in Berlin zwischen 1996 und 2005 von 33 auf 37 Prozent gestiegen – als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des deutschen Durchschnittseinkommens bezieht.

In einer am Wochenende bekannt gewordenen Studie hatten sich 4 Prozent der Westdeutschen und 25 Prozent der Ostdeutschen einer Unterschicht ohne Aufstiegschancen zugeordnet – das Papier verwendet dafür den Begriff „abgehängtes Prekariat“. Während Bundespolitiker vor allem über das Wort „Unterschicht“ streiten, ist man in Berlin weiter. Niemand leugnet die Existenz abgehängter Verlierer.

Knake-Werner will die „Soziale Stadt“ deshalb als Leitthema im Koalitionsvertrag verankert wissen. „Wir müssen den Menschen Hilfe zur Selbsthilfe geben – nur so kann man sie aus ihrer tiefen Resignation herausholen.“ Als Beispiele nennt sie verbilligte Kulturtickets oder öffentlich geförderte Jobs in der Daseinsfürsorge. Die SPD möchte sich dem Thema programmatisch widmen, allerdings erst in vier Wochen – in der nächsten Sitzung des Landesvorstandes soll die Staatssekretärin der Stadtentwicklungsverwaltung, Hella Dunger-Löper, Vorschläge unterbreiten. „Jetzt schnell auf den Medienhype zu hüpfen, wäre nicht klug – zumal gerade die Fachgruppen für die Koalitionsverhandlungen tagen“, sagt Vorstandsmitglied Mark Rackles.

Bei aller Freude darüber, dass jahrzehntealte Berliner Probleme auf die Agenda kommen – Knake-Werner verfolgt die bundespolitische Diskussion auch mit Verwunderung. „Bei vielen Wortmeldungen schwingt der Tenor mit, dass es den Menschen nur an Aufstiegswillen fehlt. Da ist viel Heuchelei im Spiel“, sagt die Sozialsenatorin. „Die Betroffenen dürfen nicht stigmatisiert werden.“ Ähnlich sieht das der linke Parteiflügel der SPD. „Für die Erkenntnis, dass es Abgehängte gibt, wurde es höchste Zeit. Aber manche suggerieren, die Menschen hätten jedes Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe verloren. Das ist die falsche Perspektive“, sagt Rackles, der auch Sprecher der Berliner SPD-Linken ist. Er kritisiert die Analyse des SPD-Vizekanzlers. Franz Müntefering hatte in einem Interview bestritten, dass es Schichten in Deutschland gibt. „Wer in Kreuzberg wohnt, kann leicht im eigenen Haus feststellen, welcher Nachbar zu welcher Schicht gehört“, so Rackles.

Die Grünen begrüßen die aktuelle Debatte. „Immer mehr Menschen haben keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt und rutschen in die Armut“, sagt die Fraktionschefin Franziska Eichstädt-Bohlig. Um die Probleme zu lösen, müssten „ein effektiveres und gerechteres Bildungssystem und die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund im Mittelpunkt stehen“.

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