die taz vor zehn jahren zum protest deutscher schriftsteller gegen die rechtschreibreform
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Man hat gelernt, im Leben oder in der Schule, wie Welt zu sehen ist und wie man sie in Sprache wiedergibt (…). Und das soll alles plötzlich nicht mehr stimmen? (…) So etwas bringt selbstverständlich Angst und Unmut in die Welt. Wer hat sich schon freiwillig vor hundertfünfzig Jahren in eine Eisenbahn gesetzt? Und wer vor fünfzehn Jahren hinter einen Computer?

Um so mehr verwundert, daß es nicht die sogenannten kleinen Leute sind, sondern die großen Dichter, die diesem Unmut Luft verschaffen (…). Dabei bietet gerade die Rechtschreibreform, so inkonsequent sie auch sein mag, erste Ansätze, die engen orthographischen Fesseln der ohnehin nicht leichten deutschen Sprache etwas zu lockern. Da es nach wie vor die Benutzer des restringierten Sprachcodes sind, also meist die Kinder sogenannt ärmlicher Verhältnisse, die dem elaborierten Code ihren Zehnt zahlen müssen, macht die Vereinfachung der Rechtschreibreform in jedem Fall Sinn.

Die einstweiligen Änderungen sind zwar von der ursprünglichen Forderung nach einer konsequenten Kleinschreibung und der Abschaffung des Beistrichs noch weit entfernt, aber zumindest werden mehr Freiräume geschaffen. Und vielleicht ist noch wichtiger, daß diese Reform vielleicht ein erster Schritt auf einem langen Weg sein wird, dem man durchaus nicht gleich den Boden abgraben sollte, bevor dieser überhaupt getan ist (...).

Diskussionswürdiger ist eher, ob eine normierende Rechtschreibung, die rechtsprecherisch unentwegt in Falsch und Richtig einteilt, überhaupt Sinn macht (…). Denn eines bleibt in jedem Fall gewiß: Deutsch ist eine schwere Sprache.

Der Schriftsteller Franzobel

in der taz vom 18. 10. 1996