: Ritter ohne Schwert und Adel
VON HENK RAIJER
Der Schädel ist eine Zumutung. Für manch älteres Mitglied der Gemeinde, aber auch für den Kirchenvorstand. Doch Pfarrer Hans Mörtter grinst wie sein verblichener Freund neben der PC-Tastatur auf seinem Schreibtisch und krempelt die Ärmel seines eng anliegenden, schwarzen Pullis auf. Der 51-Jährige hat ein Faible für die Provokation, er liebt den Tabubruch, vor allem wenn er selbst ihn inszeniert. „Ich führe hier Trauergespräche mit Angehörigen“, sagt Mörtter. Klar, der ockerfarbene Kopf mit den leeren Augenhöhlen habe schon so manch Hinterbliebenen schockiert. „Aber nach einer gewissen Zeit wirkt der Tod direkt vor der Nase wie eine Befreiung“, sagt Mörtter, lehnt sich entspannt in seinen Stuhl zurück und verschränkt die Arme. Ihm selbst dient der eigenwillige Briefbeschwerer zur Selbstvergewisserung. „Wenn ich mal wieder die Engstirnigkeit der verfassten Kirche zu spüren bekomme, guck‘ ich nur kurz den Schädel an, und schon relativiert sich Einiges.“
Ein traditioneller Kirchenmann ist Hans Mörtter nicht. Der umtriebige Südstadt-Pfarrer pflegt in seinen Gottesdiensten in der Kölner Lutherkirche die offene Form. Statt Predigten zuzuhören, animiert er seine Gemeindemitglieder zum Gespräch, das meist ein nächstes nach sich zieht, etwa über die drohende Abschiebung einer Flüchtlingsfamilie aus ihrer Mitte, die Not der wachsenden Zahl von Obdachlosen oder die jüngste „Achse-des Bösen“-Tirade des „christlichen Gotteskämpfers“ George W. Bush. Nicht wenige, die sich seit Jahrzehnten zur Gemeinde zählen, graust es vor Mörtters Liturgien. Andere nehmen sogar den Weg aus dem Bergischen auf sich, wenn, wie in diesem Herbst, mal wieder ein Tango-Gottesdienst auf dem Programm steht, bei dem hemmungslos getanzt, zugleich aber auch das Thema Folter nicht außen vor bleiben wird.
Mörtter selbst sieht sich als „Virus, den dieses Land braucht“. Mit „Talk-Gottesdiensten“, wechselnden Anti-Kriegs-Motiven auf der „Sprechenden Wand“ draußen an der Kirchenmauer oder seinem aktiven Bekenntnis zum Kirchenasyl für Illegalisierte macht sich Hans Mörtter nicht nur Freunde. Gemeindemitglieder schicken ihm schon mal die Kirchenleitung ins Haus, die ihn zur Räson bringen oder am besten gleich fortschicken soll. „Manch einer wäre nicht unfroh, wenn ich nicht mehr hier wäre“, erzählt er. Dabei fährt er sich mit sämtlichen Fingern der rechten Hand durch die kurzen, schwarzen Haare.
Mörtter drückt auf den Summer neben der Bücherwand, zwängt seine nackten Füße in braune Wildlederschuhe und nimmt im Treppenhaus eine Paketsendung entgegen. „Es gibt Zeiten, da ist man nicht so beliebt“, sinniert er laut, während er das Päckchen skeptisch von allen Seiten mustert und es schließlich auf einen der Stapel auf seinem mit Papieren gepflasterten Schreibtisch legt. Dann schaut er hoch und sagt: „Na ja, mein Image als Asyl-Allzweckwaffe und Hetero-Vorzeige-Soli für Lesben und Schwule ruft nunmal auch radikale Zeitgenossen auf den Plan.“ Seit über einem Jahrzehnt traut Mörtter schwule und lesbische Paare und engagiert sich in der Flüchtlingsarbeit. „Da beschimpfen einen Anrufer schon mal als Sau“, so Mörtter. „Andere drohen mir im Volksgarten nebenan aufzulauern, um mich ‘zu Brei zu schlagen‘.“
Wütend machen den Pfarrer aber eher behördliche Willkür oder Ignoranz im Umgang mit Menschen am Rande der Gesellschaft. „Mir rücken zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen mit psychischen Problemen, Illegale oder Obdachlose auf den Pelz“, erzählt Mörtter. Und gibt ganz offen zu, dass er manchmal stinksauer auf jene Gutmeinenden sei, die seine Kirche als Asylort jedweder Art empfehlen. „Auch meine Kraft ist endlich, und für die Familie muss Zeit bleiben.“ Letztlich aber obsiege bei ihm „die Wut darüber, dass diese Menschen wie Nummern behandelt werden“. Da staue sich immer wieder was auf. „Dann geh‘ ich los und schimpfe. Oder schreibe Emails – die ich schon Stunden später bereue.“
Seit 1987 mischt der gebürtige Bonner die Gegend um den Kölner Martin-Luther-Platz auf. Was seine Projekte ausmache, sei die Verbindlichkeit, findet Mörtter, der selbst, wie er sagt, „vor so‘ner Verbindlichkeit in der Vergangenheit oft davon gerannt“ sei – 1990 sogar vor der eigenen Hochzeit, die er buchstäblich in letzter Minute platzen ließ, weil „was in der Kirche passiert, immer echt sein muss“. Eine, wie es scheint, prägende Erfahrung mit sich selbst. Im letzten Jahrzehnt hat der Theologe zusammen mit einer Reihe von Südstadt-Promis aus Politik und Kultur neben vielen anderen Initiativen einen alternativen Karnevalszug ins Leben gerufen, die soziale Begegnungsstätte Vringstreff begründet und ein aus Obdachlosen und Berufsmusikern zusammengesetztes „Menschensymphonieorchester“ mit aufgebaut.
Dabei wollte Hans Mörtter nie ins Pfarramt, ja nicht einmal Theologie studieren. Der Metzgersohn, für den wie für seine beiden Brüder der Besuch des Gymnasiums oder gar ein Studium nicht selbstverständlich waren, hatte sich für Psychologie entschieden, musste aber Mitte der 70er Jahre wegen des Numerus Clausus‘ zwei Jahre warten. Da schrieb er sich, „nur um die Zeit zu überbrücken“, an der theologischen Fakultät der Uni Bonn ein. Er blieb dabei – und im Theologenkreis meist allein. „Über Fragen wie das Verhältnis von Macht und Talar wollte dort keiner mit mir reden“, erzählt Mörtter und schaut einen herausfordernd an. „Alle meine Freunde damals waren Atheisten. Mein Freundeskreis war und ist im Grunde einer jenseits der Kirche. Denen brauche ich mit meinem Glauben eh nicht zu kommen.“
Gleich nach dem Examen stürzt sich Mörtter in eine andere Galaxie: vom beschaulichen Bonn ins nächtliche Bogotá. In den Jahren 1984-85 arbeitet er dort als Auslandspfarrer und unterrichtet in der kolumbianischen Hauptstadt an der Deutschen Schule. „Eher die klassische Nummer“, erinnert sich Mörtter. „Ich wollte aber den Stachel spüren, musste in die Nacht Bogotás eintauchen.“ Das tut er dann jeden Freitag mit einem Team vom Roten Kreuz, das nächtens durch den Millionen-Moloch streift, um Straßenkinder ambulant zu behandeln oder, wenn nötig, in ein Krankenhaus zu bringen. „Diese nächtlichen Ausflüge sind mir oft sehr nah gegangen, und ich habe seither nie mehr aufgehört, darüber zu sprechen“, sagt Mörtter, dessen Gemeinde noch heute soziale Projekte in Kolumbien unterstützt.
Als er 1987 seinen ersten Gottesdienst in der Kölner Lutherkirche abhält, sitzen dort 23 alte Leute in den vorderen Bänken. „Da wusste ich: Hier ist eine Blitzreform fällig, hier muss man Staudämme brechen. Und so bin ich denn als erstes in die Kneipen gezogen und habe mich dem jeweiligen Stammpublikum als neuen Pfarrer vorgestellt“, erzählt der Theologe. Sein Anliegen: diejenigen unruhig zu machen, die sich seit langem in ihrer Wagenburg eingerichtet hatten. „Die sollten merken: Der ist anders.“
Anders sind auf jeden Fall seither die Gottesdienste in der Lutherkirche. Sie sind Hans Mörtter Orte der Begegnung und Bühne zugleich. Gerne klaut er schon mal einen Heiligen bei der katholischen Konkurrenz, liefert sich einen Fechtkampf mit Konfirmanden vor dem Altar, um St. Martins Wandel zum Pazifisten darzustellen. Den gibt er selbst mit Leidenschaft. Auch auf die Gefahr hin, selbstgerecht zu wirken? „Ein Pfarrer kann nur für den Frieden arbeiten. Zum Beispiel kann ich doch aktuell zu Georg W. Bush‘ mentaler Vorbereitung auf einen Iran-Feldzug nicht einfach schweigen“, echauffiert sich der Kirchenmann. Hans Mörtter berät als Kriegsdienstverweigerungsberater nicht nur angehende jugendliche Wehrdienstleistende, sondern zählt auch gestandene Berufssoldaten zu seiner Klientel.
Der Pfarrer lehnt sich gegen die Bücherwand, die sein Arbeitszimmer kleiner macht, als es ist. Zum Psychotherapeuten hat er es nicht gebracht. Dennoch sieht er sich als „Trittbrett“ für Menschen in Not. „Ich nehme die Leute, die kein Treppengeländer mehr spüren, an die Hand und helfe ihnen, die nächste Stufe zu erreichen, damit sie aus eigener Kraft weitergehen können.“ Mörtter steht auf, hebt den linken Fuß leicht an und stellt ihn behutsam zurück auf den Holzboden seines Arbeitszimmers. Wie im Mittelalter strebten die Menschen nunmal zum Kirchturm, wenn sie Schutz bräuchten. Und er versuche, ihnen diesen Schutz zu gewähren. Sein Hauptkampfplatz sei heute allerdings eher der PC, sagt Mörtter, während er in den Flur eilt, um seine Frau zu verabschieden, mit der er seit 2002 verheiratet ist und eine vierjährige Tochter hat. Sie geht zu einer Vorstandssitzung des Fördervereins, mit dessen Unterstützung die Lutherkirche ihre zahlreichen kulturellen Projekte auf die Beine stellt. „Ob Plakate, Tanz oder Performance – wir machen Kunst, die die Verwirrung unserer Zeit transparent macht“, sagt Mörtter. Wie etwa das Stück „Tote. Unbegraben“ des Kölner Frauenensembles Theater Elementar, das in diesem Monat mehrmals in seiner Kirche zur Aufführung kommt und sich vor dem Hintergrund des Folterskandals von Abu Ghraib im Irak der Frage widmet, ab wann der Mensch das Recht hat, zu foltern und Schuldige zu richten.
Kunst sei in der Lutherkirche per Definition nonkonformistisch, sagt der unangepasste Theologe, hebt plötzlich mit seiner Linken den Schädel vom Schreibtisch, schaut ihn nachdenklich an und sagt mit einem Grinsen: „Ich kenne seinen Namen nicht. Das ist aber typisch, ich habe ein ganz miserables Namensgedächtnis.“ Ob das nicht gerade in seinem Beruf ein bisschen peinlich sei. „Na, ja, ich habe da ein paar geniale Tricks auf Lager“, sagt Mörtter. Er fährt dabei mit Daumen und Zeigefinger an einer Querverstrebung des Bücherregals entlang. „Aber im Grunde mag ich das nicht an mir. Daran muss ich noch arbeiten.“
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