Vielleicht war auch ein Regenschirm im Spiel

PROZESS Hat ein einzelner Demonstrant eine Gruppe Polizisten vermöbelt? Und haben die ihn zu ihrer Verteidigung bewusstlos geschlagen? Vor dem Landgericht hat ein Prozess begonnen, der das klären soll

Vor Saal 101 des Landgerichts steht ein Dutzend Polizisten. Drinnen sitzen vier weitere – nicht zum Schutz, sondern als Zeugen. Es geht um die Demonstration, die vor einem Jahr nach dem Tod der zwangsgeräumten Rentnerin Rosemarie Fliess in Kreuzberg stattfand. Demonstrant Sten M. ist angeklagt wegen Landfriedensbruchs, schweren Landfriedensbruchs, Körperverletzung, versuchter schwerer Körperverletzung, Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Absurd, urteilten im Vorfeld die Demo-Veranstalter rund um die Kampagne „Zwangsumzüge verhindern“. Sie werfen der Polizei vor, den Zug auf dem Kottbusser Damm grundlos angegriffen zu haben, dabei sollen sie Sten M. bewusstlos geschlagen haben.

Dass M. bewusstlos wurde und im Urban-Krankenhaus aufwachte, bestreitet niemand im Saal. Und doch sitzt er auf der Anklagebank. Die Aufklärung der Vorwürfe gegen ihn gestaltet sich vom ersten Moment an schwierig: Der Hauptzeuge hat sich entschuldigen lassen. Dafür sind über zwanzig Unterstützer für M. da, die die Verhandlung lautstark kommentieren, bis der Richter droht, sie müssten den Saal verlassen.

Was die Polizisten nun berichten, ist äußerst dürftig und lässt auch den Richter mehr als einmal den Kopf schütteln. Schon wegen der immer gleichen Wortwahl der Zeugen, die kaum nach spontaner Erzählung klingt: Die Demonstrierenden hätten „massiv eingewirkt“ auf den Kollegen, es sei zu „Solidarisierungseffekten“ gekommen.

Auch die Schilderungen gehen auseinander: Bei einem Zeugen versuchte eine ganze Gruppe, den Angeklagten festzunehmen, bei den anderen war es nur ein Beamter. Bei den einen hatte M. einen Regenschirm in der Hand, die anderen haben davon nichts gesehen. Wie genau der Angeklagte geschlagen und getreten habe, mit welchem Fuß? Auch das weiß der wichtigste Zeuge nicht mehr, der schwitzend und mit rotem Kopf versucht, dem Richter und der Verteidigerin zu antworten.

Der Angeklagte sitzt schweigend da, ein schmächtiger junger Mann – schwer vorzustellen, wie er die bulligen Polizisten „malträtiert“ haben soll. Ob das Gericht der Geschichte Glauben schenkt, wird heute nicht mehr entschieden – erst muss der Hauptzeuge aussagen. Ende Mai soll die Verhandlung weitergehen. JULIANE SCHUMACHER