in fußballland
: Die Freiheit im Freistoß

CHRISTOPH BIERMANN über die Kunst des Zirkelns, die Juninho Pernambucano wie kein Zweiter beherrscht

Es war in jenem Sommer, der kein deutsches Fußballmärchen war, sondern ein brasilianisches, als ich etwas widerwillig nach Frankfurt zum Training der Seleção fuhr. Fußballspielern bei ihrer täglichen Arbeit zuzuschauen ist ein eher spezialistisches Vergnügen, selbst wenn es sich ums brasilianische Nationalteam handelt. Meistens ist es langweilig, und das war es auch an diesem Tag zwischen den Spielen im Confederations Cup, den Brasilien später triumphal gewinnen sollte. Eher mäßig interessiert bewegten sich die Spieler über den Platz, um sich nach einem knappen Stündchen schon wieder in die Umkleidekabine aufzumachen. Einige blieben unterwegs stehen und sprachen Nichtssagendes in die Mikrofone, die ihnen aus einem Menschenknäuel am Drängelgitter entgegengehalten wurden.

Es schien ein vertaner Nachmittag zu sein, als ich aus dem Augenwinkel sah, dass einige Spieler noch Freistöße übten. Auch dabei ist das Zuschauen normalerweise nicht sonderlich unterhaltsam, denn die Schusskünste der meisten Fußballprofis sind nicht so gut, dass sie den Zuschauer damit zu fesseln vermögen. Doch an diesem sonnigen Sommertag des Jahres 2005 im Stadion am Brentanobad in Frankfurt am Main war das anders, es entwickelte sich bald eine Disputation über die Kunst des Freistoßschießens.

Es gibt viele Möglichkeiten, einen Freistoß ins gegnerische Tor zu befördern, und hier waren sie alle zu sehen, und zwar auf idealtypische Weise. Der bullige Julio Baptista, genannt „La Bestia“, etwa drosch sie mit einer solchen Urgewalt auf das Tor, dass man selbst um die Unversehrtheit der stummen Diener aus Plastik fürchten musste, die als Freistoßmauer aufgebaut worden waren. Ähnlich war es bei Roberto Carlos, der beim Confederations Cup acht Jahre zuvor gegen Frankreich einen der schönsten Freistoßtreffer aller Zeiten erzielt hatte, als er den Ball mit irrer Geschwindigkeit um die Mauer herum geschossen hatte. Dieser Treffer machte auf die veränderte Hardware neu beschichteter Bälle aufmerksam, denen man einen scharfen Drall versetzen kann, ohne auf Geschwindigkeit zu verzichten. Insofern waren die Übungen von Roberto Carlos auf dem Trainingsplatz auch als Erweiterung des Gewaltmodells von Julio Baptista zu sehen.

Mit der Kraft, die Roberto Carlos aus seiner mächtigen Oberschenkel- und Wadenmuskulatur holte, konnte Ronaldinho selbstverständlich nicht mithalten. Der beste Spieler der Welt schoss seine Freistoß-Serie mit der seinem Spiel eigenen Leichtigkeit und Einfallsreichtum. Es war nicht auszumachen, ob er rechts oder links an der Mauer vorbeischießen würde oder über sie hinweg. Mal visierte er das kurze Eck an, mal das lange. Der Torwart konnte sich auf keine Variante einstellen, denn immer wieder fand Ronaldinho eine neue Lösung.

Es war kaum vorstellbar, dass Freistöße noch besser geschossen werden können, doch ein kleiner Mann mit strubbeligem Haar und leicht melancholischem Aussehen bewies das Gegenteil. Juninho Pernambucano macht stets einen etwas traurigen Eindruck, denn über seinem Leben als Fußballspieler liegt der Schatten Ronaldinhos. Ohne ihn würde Juninho in der brasilianischen Nationalmannschaft häufiger glänzen können, doch so bleibt der Spielgestalter von Olympique Lyon die Rolle des Mannes hinter Ronaldinho vorbehalten – außer bei Freistößen.

Wie Ronaldinho schoss er sie auf alle Arten, nur waren seine Schüsse noch präziser und seine Torquote höher. Längst saß ich weltvergessen auf der Tribüne und konnte nicht glauben, dass man Freistöße in solch großer Zahl so gut schießen konnte, als Juninho auch das letzte Wort hatte. Er schoss den Ball über die Mauer, und dahinter fiel er von einer imaginären Hand gestoppt vor der Torlinie herunter und prallte erst noch einmal auf, bevor er ins Netz sprang. Das hatte ich noch nie gesehen, und sogar Juninho lächelte für einen Moment zufrieden. Dem großen Buch der Freistoßkunst hatte er ein neues Kapitel hinzugefügt und ging wortlos in die Kabine. Ich hingegen schwor mir, häufiger zum Training zu gehen, jedenfalls zu dem der Brasilianer.