Rothschild trifft Mapuche

Unter Pinochet entdeckten Europas alte Weindynastien Chile als Anbauregion. Die Produktion boomt, der Trend geht zur Masse – und zu Repliken großer Weine aus der Alten Welt

von TILL EHRLICH

Als Ende März erneut ein Schneeschauer in Berlin das Ende des Winters verzögerte, beschloss ich, nach Chile zu fliegen. Zur Weinernte. Ich übersprang Frühling und Sommer und flog in den chilenischen Herbst. Von São Paulo aus fliegt man über die Anden und sieht unter sich nur nackten Fels. Drei Stunden lang. Eine steinerne Ödnis, kein Baum, kein Haus, kein Tier. Dann endet plötzlich die Monotonie, dunkelgrüne und braune Flecken werden sichtbar, wachsen zu einem riesigen Fleck an. Eine Stadt. Santiago, sagt jemand. Der Sinkflug beginnt.

Mit dem Auto geht es auf einer Schnellstraße in Richtung Süden, raus aus Santiago. Am Straßenrand Müll und verdorrtes Gras. Eine kurze Fahrt ins Weingebiet Maipo Valley. Sie endet vor einem Schlagbaum, zwei bewaffnete Wachleute prüfen meine Einladung, dann darf ich passieren, es geht an einer hohen Mauer vorbei, die oben mit Glasscherben versehen ist. Dann plötzlich ein eisernes Parktor, alte Kastanienbäume, eine mit Efeu berankte Villa mit Park aus den Vierzigerjahren. Dahinter ein rotweißes Polo-Tor und ein riesiges Feld mit Weinreben.

Eduardo Chadwick kommt auf mich zu, ein sympathischer Mann. Die Chadwicks waren 1840 von England nach Chile ausgewandert. Der 45-Jährige ist ein Urenkel von Don Maximiano Errázuriz, der im 19. Jahrhundert einer der Gründerväter des chilenischen Weinbaus war, als er 1870 im Aconcagua Valley Rebberge anlegen ließ. Mit Cabernet Sauvignon begann 1992 der erneute Aufstieg der Familie Chadwick im Weinbau. Fast der gesamte Weinbergbesitz war 1967 verstaatlicht worden. Doch Chadwick bepflanzte zu Beginn der 1990er-Jahre das Polofeld, auf dem sein Vater, ein chilenischer Polo-Champion, jahrzehntelang trainiert hatte, mit Cabernet. Das rotweiße Polo-Tor hat er stehen lassen.

Wein statt Polo – eine gute Entscheidung zum rechten Zeitpunkt. Chile erlebte nach dem Ende der Ära Pinochet einen Wirtschaftsaufschwung, der auch Chadwicks Engagement zugutekam. Heute ist Errázuriz ein wachsender Familienkonzern mit 2.000 Hektar Rebfläche, wovon etwa siebzig Prozent bewirtschaftet werden.

In Chile ist die sogenannte Neue Weinwelt fest im Griff der Alten. Jedenfalls sind fast alle führenden Weingüter in der Hand von Familien oder Unternehmen, die aus Europa stammen. Miguel Torres, Weingutsbesitzer aus dem nordspanischen Penedès kam 1978 nach Chile, fünf Jahre nach dem Putsch von Pinochet. Der Diktator stoppte die unter Allende begonnenen Verstaatlichungen und hob das Anpflanzverbot für Wein auf. Torres gründete südlich von Curicó das Weingut Viña Maquehua und führte als erster in Chile Stahltanks und französische Eichenholzfässchen, die Barriques, ein. Er bepflanzte 230 Hektar Land mit europäischen Reben wie Merlot, Cabernet Sauvignon, Pinot noir, Chardonnay, Riesling, Gewürztraminer und Sauvignon blanc. Das ermutige andere Unternehmer, in Chiles Weinbau zu investieren.

Pinochet brachte die chilenische Weinwirtschaft voran. Es kamen überwiegend Familienimperien aus Europa nach Chile. Etwa die Lurtons aus Bordeaux oder die Rothschilds. Baronesse Philippine, Besitzerin von Château Mouton Rothschild, investierte in das Joint-Venture-Weingut Almaviva. Produziert werden Weine im Bordeaux-Stil aus französischen Rebsorten, die in Barriques reifen. Doch die Etiketten zieren Symbole der Mapuche.

Baron Eric de Rothschild, Geschäftsführer von Château Lafite Rothschild aus Bordeaux, kaufte 3.400 Hektar Rebland, wovon 580 Hektar bestockt sind. Doch produziert er keine hochwertigen Weine in Chile, er macht seinem Château Lafite keine Konkurrenz. Vielmehr werden jährlich 3,5 Millionen Flaschen Konsumweine für den nordamerikanischen und den europäischen Markt erzeugt. Chile ist eine Cash Cow. Die Kosten für Grundbesitz und Löhne sind niedrig, das Klima ist besonders günstig und ermöglicht stabile und zuverlässige Ernten und Gewinne.

Eduardo Chadwick ist anders als Eric de Rothschild und das Gros der ausländischen Investoren. Zwar produziert auch er Konsumweine. Doch daneben will er noch Premiumweine erzeugen, die selbst neben Blue-Chip-Weinen aus Bordeaux bestehen können, wie Château Lafite Rothschild oder Château Petrus. Dafür war er ein Joint Venture mit der kalifornischen Weindynastie Mondavi eingegangen. Zusammen erzeugten sie zehn Jahre lang mit höchstem Aufwand und immensen Investitionen den Seña, einen weiteren Premiumwein von Chadwick. Eigens wurde im Acongagua Valley ein 320 Hektar großes Areal erworben und ein steiler Weinberg mit Terrassen angelegt. Inzwischen gehört Chadwick die Marke Seña allein, doch der Wein kann es noch nicht mit einem Spitzenbordeaux aufnehmen.

Die Führungsriege von Chadwick, Agraringenieure, Kellermeister und Marketingleute, besteht aus gebildeten Weißen mit europäischen Vorfahren. In Chadwicks Unternehmen sind alle wichtigen Posten mit ihnen besetzt. Sie haben meist an der katholischen Universität in Santiago studiert oder gleich in Bordeaux. Obwohl ihre Familien seit über 150 Jahren in Chile leben, sind sie keine Chilenen geworden. Es gibt keine Indios in verantwortlichen Positionen. Die Indios, Männer und Frauen, findet man im Weinberg. Es ist Weinernte, und sie rennen im Laufschritt. Gerade wird Cabernet Sauvignon geerntet, wunderschöne und gesunde Trauben, groß und schwarzblau. Aus ihnen soll der Premiumwein von Chadwick entstehen, der „Viñedo Chadwick“.

Sie wollen nicht fotografiert werden. Sie wollen nicht in die Kamera blicken. Sie wollen nicht, dass ich ihr Bild stehle. Sie rennen. „Aus dem Weg, Gringo!“ Sie tragen dicke, bunte Pullis, daran haben sie Pappschilder mit Nummern geheftet. Jeder Indio ist eine Nummer. Wenn eine Traubenkiste gefüllt ist, eilen sie zum Vorarbeiter. Er hat einen Block mit den Nummern, wenn die Kiste voll genug ist, macht er einen Strich. Nach den Strichen richtet sich der Tageslohn.

„Warum lasst ihr sie so rennen?“, frage ich einen Agraringenieur aus der Führungscrew. Er lächelt. „Auf anderen Weingütern müssen sie noch schneller laufen.“ Und ich frage weiter: „Wie viel verdienen diese Arbeiter am Tag?“ Nun berät er sich mit dem Public-Relations-Manager, wechselt vom Englischen ins Spanische, das ich nicht verstehe. Dann sagt er: „Zwanzig Dollar.“ Es werden nicht mehr als fünf sein. Eine Flasche „Viñedo Chadwick“ kostet 75 Euro in Deutschland. Sie wird kaum im eigenen Land getrunken und vor allem für den westeuropäischen Markt produziert. Der Ehrgeiz von Chadwick ist es, einen Wein zu machen, der den besten der Alten Welt ebenbürtig ist. Weine, die Wert haben. Und die kommen überwiegend aus Bordeaux. Bordeaux ist immer noch die Weltmacht des Weins. Das spürt man in Chile.

Kann man einen chilenischen Wein machen, wenn man keine chilenische Identität hat? Die Weine sind makellos, perfekt gemacht. Doch sie sind Kopien. Kopien der besten Weine der Alten Welt. Bordeaux und Toskana heißen die Vorbilder. Chadwick glaubt, dass sie die Vorbilder einholen können: wenn sie den Druck auf die Indios nicht lockern, wenn sie in Hightech investieren und sich an dem orientieren, was im fernen Europa Wert hat. Doch eine Kopie ist immer eine Kopie und hat keinen Wert gegenüber dem Original.

Neuerdings setzen sie auf Biodynamik. Einerseits vermüllt ihr Land, auf der anderen Seite machen sie Bio für Europas umweltbewusste Verbraucher. Es geht hier viel kostengünstiger, nicht nur wegen der niedrigen Löhne, auch wegen des stabilen Klimas. Eduardo Chadwick hat daher seinen Seña-Weinberg im Aconcagua Valley auf Biodynamik umstellen lassen. Er strebt das Demeter-Siegel für den Seña an. Wenn er es bekommt, ist dies das zweite chilenische Weingut mit einem Demeter-Wein.

Im Valle de Casablanca hat Chadwick gerade tausend Hektar Land gekauft. Da pflanzt er nun 120 Hektar Reben. Es ist ein kühleres Seitental des großen, Valle Central genannten Landstrichs, der sich 600 Kilometer lang als schmaler Streifen zwischen Ozean und Anden hinzieht. Casablanca liegt nur wenige Meilen vom Pazifik entfernt. Es ist von dort aus nicht weit bis nach Valparaíso, der Hafenstadt am Pazifik. Die Stadt wurde von den Heimatlosen geprägt, von Auswanderern, Flüchtlingen und Emigranten. Juden, Nazis, Kommunisten. Sie suchten hier den Neuanfang. „Valparaíso“ heißt Tal des Paradieses. „Endstation Sehnsucht“ passt besser. Die Stadt wirkt verschlissen. Neben San Francisco war sie einmal die wichtigste Hafenstadt am Pazifik. Als der Panamakanal eröffnet wurde, verlor sie rapide an Bedeutung.

Casablanca ist das wichtigste chilenische Anbaugebiet für Weißwein. Wenn man dort durch die Rebanlagen läuft, kann man salzige Meeresluft riechen. Es ist nicht so heiß wie im Landesinneren. Kühle Winde, bewaldete Hügel. Die Luft duftet nach feuchtem Gras. Warum gibt es hier keine Weißweine, die auch so schmecken?, frage ich mich.

„Wenn ich könnte, würde ich Chile näher an Europa heranrücken“, sagt Eduardo Chadwick. „Was ist Chile? Was ist die Eigenart des chilenischen Weins?“ Rhetorische Fragen. Er sitzt auf einem englischen Stuhl, im Haus seines Vaters, des Polo-Champions, mit englischer Bibliothek und französischen Gobelins. „Wo ist hier Chile?“, denke ich.