Urdunkel, Urmunkel

Das Wort „Terroir“ ist in aller Munde: Das Typische am Wein, so raunt es allenthalben, komme aus dem Boden. Aber gibt es das überhaupt, eine deutsche oder österreichische Weinidentität?

VON TILL EHRLICH

Ursprünglich war „Terroir“ die Bezeichnung für die heimische Arbeitsweise der französischen Winzer vor der Industrialisierung der Weinbranche. Zugrunde lag der Gedanke, dass sich die Weine von unterschiedlichen Weinbergen auch geschmacklich unterscheiden sollten. Von Frankreich aus ist die Denkweise in fast alle Weinregionen der Welt gelangt. Damit wird heute die Globalisierung der Weinbranche angeprangert, als Gegenschlag auf die Standardisierung von Weinherstellung und Weingeschmack. „Terroir“ wird als Qualitätsmerkmal angepriesen, doch eigentlich sagt der Begriff über die Qualität eines Weines … gar nichts aus.

Terroir-Weine werden oft als die „natürliche“ Weine vermarktet, im Gegensatz zu Weinen, die mit mehr Technik erzeugt werden. Seither tragen auch in Deutschland immer mehr Weine Namen, die Terroir suggerieren wollen wie „Grauwacke“, „Kalkmergel“, „Rotschiefer“, „Schieferterrassen“, „Steinsatz“, „Einzelstück“ oder „Devon“. Inzwischen hat fast jeder Supermarkt einen Terroirwein gelistet. In Österreich sind derzeit Weinnamen mit der Vorsilbe „Ur“, wie etwa „Urkristall“, „Urgestein“, „Urkraft“ oder „Ursprung“, beliebt. Das erinnert an das, was Gottfried Benn sarkastisch „Urgrund, Urschoß, Urdunkel, und Urmunkel“ nannte. In allen Vorstellungen von Terroir ist der Blut-und-Boden-Gedanke enthalten. Identität wird hier an einen bestimmten Ort gebunden und definiert sich zugleich über die Abgrenzung von anderen Orten. Da entstehen das „Wir“ und das „Ihr“ und der Vergleich über die Differenz.

So versuchen auch die verschiedenen Weinregionen in Deutschland und Österreich ihre Eigenheiten herauszustellen, indem sie in Abgrenzung von anderen Regionen das Typische ihrer Gegend betonen. Das Typische ist aber immer das grob Verallgemeinerte, das auf Nachahmung angelegt ist. Die Idee der Typizität eines Weingebiets geht von identifizierbaren Merkmalen aus, die jeweils reproduzierbar sein sollen. Durch die Kodifizierung und Kanonisierung des Geschmacks wird versucht, so etwas wie kulturelle Erinnerbarkeit für den Wein der Region festzuschreiben, was als vorbildlich gilt und zugleich Abweichendes ausschließt oder herabsetzt. Aber kann man das Eigene überhaupt im Typischen finden?

In der Steiermark etwa hat sich seit einer Dekade ein internationaler Weißweinstil durchgesetzt, der derart glatt ist, dass man darauf leicht ausrutscht. Obwohl sie von handwerklich arbeitenden Betrieben erzeugt werden, ist der Geschmack der Weine normiert. Viele langweilen. Muss Sauvignon blanc immer nur nach Stachelbeeren schmecken? Viele Winzer arbeiten mit industriellen Aromahefen, um den „typischen“ Steiermark-Geschmack zu produzieren.

Seit einigen Jahren gibt es einige unabhängige Winzer in der Südsteiermark, die lebendige Weine erzeugen. Winzer wie Sepp Muster, Ewald Tscheppe, Roland Tauss und Karl Schnabel. Dafür zahlen die Abtrünnigen einen Preis: Manchen ihrer Weine wird die amtliche Anerkennung als „Qualitätswein“ verweigert, weil sie anders schmecken als die Stachelbeerweine. Begründung: Die Weine seien untypisch für die Steiermark. Sie müssen deshalb als „Landwein“ deklariert werden.

Zum Glück gibt es neben dem Gerede über Terroir die Weine selbst. In Deutschland gibt es allerorten herrliche Weine, deren Identität nicht darin besteht, Terroirwein oder Biowein zu sein. Seltsamerweise kennen die Deutschen die italienischen Weine besser als die deutschen. Und es musste zu Beginn der 1990er-Jahre ein Engländer kommen – Stuart Pigott –, der den Deutschen ihre eigenen Weine mit Nachdruck ans Herz legte. Einem deutschen Weinexperten hätte man keinen Glauben geschenkt, er wäre als weinspinnerter Nationalist belächelt worden.

Seitdem hört man überall, dass es ein Comeback des deutschen Weißweins gebe. Schon sieht ihn der Verband der Deutschen Prädikatsweingüter (VDP) wieder in jenem Status, den er vor den Weltkriegen besaß. Damals konnten deutsche Spitzenrieslinge von Mosel und Rhein höhere Preise erzielen als Premier Crus aus Bordeaux. Bester deutscher Wein besaß nicht nur Weltklasseniveau, er wurde auch entsprechend geschätzt. Doch von der angemessenen Wertschätzung sind die deutschen Spitzenweine heute noch weit entfernt. Zwar gibt es Erfolge, zu denen auch gehört, dass etwa einzelne edelsüße Weine, Eisweine und Trockenbeerenauslesen in homöopathischen Mengen auf internationalen Auktionen Höchstpreise erzielen. Doch sie gehören längst nicht zu den Blue-Chip-Weinen, die jährlich in großen Mengen aufgelegt und wie Aktien gehandelt werden. In der Blue-Chip-Klasse findet man vorwiegend Weine aus Bordeaux, ergänzt um einige wenige aus Burgund, Italien, Spanien, Kalifornien und Australien.

Das Einzige, was sich in der letzten Dekade wirklich verändert hat, ist, dass die Deutschen begonnen haben, nicht mehr offen gegen ihre Weine zu sein. Ein selbsthasserisches Moment bleibt, das eben auch zur Identität des deutschen Weines gehört und das in der Weinwelt gewiss einzigartig ist.

Dazu gehört, dass sich deutsche Winzer und Händler immer noch schwertun, ihren eigenen Wein zu präsentieren und zu verkaufen. Die Österreicher haben weniger Schwierigkeiten, zu zeigen, dass sie ihren Wein als Kultur wertschätzen. Vielleicht sind die Deutschen so schamhaft, weil sie schon aus ihr philosophischen Tradition heraus stärker mit dem Wie einer Sache beschäftigt sind und weniger mit dem Was.

Doch wie entsteht die Identität eines Weines? Aus der Interaktion mit dem Winzer. Denn mehr noch als von der geologischen und klimatischen Beschaffenheit eines Weinbergs und der Typizität einer Traubensorte hängt der Prozess der Weinwerdung vom Gespür oder Feeling des Winzers ab, der sich zu den Gegebenheiten in Beziehung setzt und versucht, sinngemäß zu intervenieren. Das bedeutet, dass der Winzer den Wein als ein Gegenüber begreift, dem er zubilligt, etwas Eigenes zu sein. Dabei geht es um mehr, als den Wein sich selbst zu überlassen. Ein guter Wein macht sich nicht von selbst. Das gärende Obst verwandelt sich im Zuge der Zusammenarbeit mit dem Winzer für diesen von etwas real Vorhandenem in eine Wertkategorie. Dadurch empfindet der Winzer den entstehenden Wein wie ein eigenständiges Wesen, das ihm mal entgegenkommt, sich mal entzieht, dem er mal auf die Sprünge helfen, mal eine Zeitlang Ruhe gönnen muss. Die Wesenszüge des Weins werden in dieser Begegnung aufgespürt.

Die Identität eines Weines bestimmt sich nicht aus der Summe seiner Merkmale. Seine Identität bezeugt vielmehr ein Verhältnis, wobei der Winzer für die Verhältnismäßigkeit einsteht. Diese Geschichte speichert der Wein als innere Zeit, was sich wiederum in der Begegnung mit dem Trinkenden zu einer eigenen Zeitlichkeit entfaltet. So gibt auch der Trinkende sein Eigenes zur Geschichte des Weines hinzu, wie ein Interpret, der eine Komposition realisiert und ihr damit zu Gegenwart verhilft.

Der Wein, den ich heute im Glas habe, heißt „Morstein“. Man kann nicht sagen, dass er schön riecht. Es ist ein fast muffig zu nennender Duft, der nach etwa drei Stunden zögerlich einen Hauch preisgibt, der an goldgelbe Weinbeeren erinnert, die so reif und prall sind, dass sie jeden Augenblick zu platzen drohen. Der Wein schmeckt unglaublich. Kraftvoll und zugleich gebündelt, kommt er mit ungewohnten Aromen entgegen und fordert die geschmackliche Wahrnehmung heraus. Der Geschmack hat nichts Cleanes. Im Gegenteil, der Wein verändert sich von Schluck zu Schluck, durchläuft ein Spektrum, das von bitter und süß bis zu sauer und salzig reicht.

Es ist ein trockener Riesling vom Bioweingut Wittmann aus Westhofen in Rheinhessen. Viel mehr steht nicht auf dem Etikett. Doch was genau ist es, was ihn besonders macht? Die Region kann es nicht sein. Er kommt aus dem rheinhessischen Hügelland, das kein besonderes Image hat. Alte Weinbücher belehren uns, dass die besten rheinhessischen Weine unmittelbar am Rhein wachsen, in den Steillagen zwischen Nierstein und Nackenheim. Dort, wo die Erde so rot ist, dass sich bei Regen der Rhein rot färbt. Das sogenannte Rotliegende sei ein einzigartiges Terroir.

Offensichtlich kommt der Morstein aus der falschen Ecke Rheinhessens. Der Boden, in dem die Weinpflanzen wachsen, ist nicht rot, sondern grau. Und es handelt sich um einen äußerlich unspektakulären flachen Weingarten. Und dennoch besitzt dieser Wein etwas Besonderes, das man in den Weinen, die direkt vom Rhein kommen, in dieser Intensität nicht findet. Und auch nicht in denen aus dem Rheingau, der Wachau oder aus Westaustralien. Der Morstein spielt einfach in der Champions League der besten Weißweine mit. Der Preis des aktuellen Jahrgangs liegt bei etwa 29 Euro im Fachhandel. Eine vergleichbare Qualität aus Burgund beginnt bei 100 Euro pro Flasche. Toll, dass der so schön preiswert ist, mag man da denken. Doch der Preis markiert den von Kennern geschätzten Wert eines Weines im Markt. Und da ist der deutsche Morstein eklatant unterbewertet. Es scheint eine eigene deutsche Weinkultur zu geben, die von den Deutschen selbst noch immer unterschätzt wird und daher auch bedroht ist.

TILL EHRLICH, 42, ist Autor in Berlin. Soeben erschienen von ihm bei Hallwag München: „200 Fragen zum Wein. Ehrlich beantwortet“, 208 Seiten, 14,90 Euro; sowie: „Die besten Weine unter 10 Euro 2007. Eine ehrliche Auswahl“, 272 Seiten, 14,90 Euro