„Übermutterung macht krank“

INTERVIEW MIRIAM BUNJES
UND NATALIE WIESMANN

taz: Frau Tschöpe-Scheffler, Sie haben keine eigenen Kinder, aber fünf Kinder angenommen. Waren Sie eine gute Mutter?

Sigrid Tschöpe-Scheffler: Wenn das Kennzeichen einer guten Mutter ist, dass sie Fehler akzeptiert und lernt, nicht perfekt sein zu müssen, könnte ich mir vorstellen, dass ich als Mutter gut genug war. Ich habe viele Fehler gemacht, aber ich konnte mich bei meinen Kindern dafür entschuldigen. Dadurch haben auch sie gelernt, dass man nicht perfekt sein muss.

Das ist alles, was eine gute Erziehung ausmacht?

Nein. Erst einmal muss man Ja zu dem Kind sagen und die Elternrolle annehmen. Eine der größten Herausforderungen ist es, die Persönlichkeit des Kindes zu respektieren. Es ist einfach, zu akzeptieren, was einem selbst ähnelt. Viel schwieriger ist es, das Anderssein des Kindes zu akzeptieren. Das hat auch etwas mit Loslassen zu tun. Genauso wichtig sind Grenzen und Vorgaben. Dafür muss aber auch das Leben der Eltern strukturiert sein. Ich kann Erziehung nicht wie einen Methodenrucksack mit mir herumschleppen. Erziehung und die eigene Persönlichkeit hängen zusammen. Wer in seiner eigenen Kindheit kein emotionales und soziales Fundament erhalten hat, kann nichts weitergeben.

Wer Probleme hat, sollte also lieber keine Kinder kriegen?

So krass würde ich das nicht sagen. Aber Eltern müssen, wenn sie Probleme haben, Anlaufstellen haben. Das brauchen nicht nur die Eltern, von denen wir glauben, sie seien risikobelastet. Wir konzentrieren uns ständig auf bestimmte soziale Schichten. Aber alle Eltern sind mit einer neuen Realität konfrontiert, wenn ihr Kind geboren wird. Traditionelle Gesellschaften haben einen 24-Stunden-Begleitdienst, das ganze Dorf unterstützt die neuen Eltern. Das haben wir in unserer individualisierten Gesellschaft nicht. Viele Mütter haben womöglich noch nie zuvor einen Säugling im Arm gehalten – weil es keine Geschwister gab.

Ist das nicht eher ein Problem der Mittelschicht, die kaum noch Kinder kriegt?

Ja. In der aktuellen Diskussion um den toten Kevin und die Unterschicht wird vergessen, dass gerade die bildungsbewussten und überengagierten Eltern ein Problem für die Kinder werden können. Da steht nur das Kind im Mittelpunkt, viele Mütter und Väter geben ihre eigene Persönlichkeit fast auf. Kinder werden genauso angegangen wie die Karriere, ihr Leben wird durchgeplant, die Erziehung orientiert sich nur an Leistung. Kinder haben aber das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Es ist auch Gewalt, wenn man Kinder permanent in ihrer Autonomie beschneidet.

Wie kann man diese Eltern bremsen?

Diese Eltern kann man zum Beispiel durch Elternkurse erreichen. Sie kommen eigentlich zu den Kursen, um noch mehr aus sich und den Kindern herauszuholen. Wir fordern sie stattdessen dazu auf, einmal zu beobachten, was ihr Kind alles schon kann, anstatt permanent mehr von den Kindern zu fordern. Das entlastet auch die Eltern.

Welche Störungen entwickeln überforderte Kinder?

Ängstliche Eltern haben ängstliche Kinder. Ihnen werden alle Risiken abgenommen. Ich nenne sie gerne Generation Rücksitz. Obwohl sie um die Ecke wohnen, werden Zehnjährige von der Mutter zur Schule gefahren. Diese Kinder machen keine eigenen Erfahrungen: Sie machen kein Feuerchen, trampeln nicht in Pfützen rum, essen keine Regenwürmer. Irgendwann werden sie bequem und haben keine Lust auf eigene Erfahrungen. Viele dieser Kinder reagieren auf die Übermutterung etwa mit Neurodermitis und Asthma.

Kommen wir zu den Kindern von weniger engagierten Eltern. Sie sprachen von einem strukturierten Leben als Grundvoraussetzung zum Elternsein. Die vielen arbeitslosen Eltern in NRW haben keinen Grund, morgens aufzustehen...

Wenn man selbst keine Arbeit hat, mit fünf Kindern in einer Dreizimmerwohnung lebt, hat man natürlich ganz andere Probleme. Die Arbeitslosigkeit kann ich als Sozialpädagogin nicht wegzaubern. Ich kann nur an den Auswirkungen herumdoktern.

Wie hilfreich sind dabei Frühwarnsysteme, die jetzt alle fordern?

In NRW gibt es viele gute Ansätze, die seit 2001 in Modellprojekten erprobt werden. Aber auch außerhalb der Landesinitiative gibt es Frühwahrnehmungssysteme, wie ich sie lieber nenne. In Gelsenkirchen etwa kommt nach jeder Geburt ein Mitarbeiter des Jugendamtes zu Besuch – in jedes Elternhaus, egal welcher Schicht. In Finnland wird das schon lange praktiziert. Das ist ein Begrüßungsbesuch, der gleichzeitig ein sanfter Kontrollbesuch ist, um zu schauen, wo es Probleme geben könnte, wo Hilfe gebraucht wird.

Können die Jugendämter ihnen dauerhaft helfen? Die klagen doch über Personalmangel.

Das müssen auch keine professionellen Helfer sein. Ich könnte mir vorstellen, dass einer allein erziehenden Mutter eine Nachbarin zur Seite gestellt wird, die dafür ein kleines Taschengeld bekommt. Das ist dann keine Besserwisserin, sondern eine erfahrene Mutter. In Essen zum Beispiel gibt es Stadtteilmütter mit Migrationshintergrund, die als Patinnen mit überforderten Frauen aus ihrem Kulturkreis einfache Alltagsdinge regeln.

Was halten Sie von den Familienzentren, die Schwarz-Gelb gerade einrichtet?

Die finde ich sehr gut, weil da nach stadtteilbezogenen Lösungen gesucht wird. Im Kölner Stadtteil Kalk haben sich zwei Kindertageseinrichtungen zusammengeschlossen und Kooperationspartner wie die Schuldnerberatung und Kinderärzte gesucht. Diese bieten dann etwa Sprechstunden im Familienzentrum, also in der Kita an.

Haben die Eltern wirklich weniger Hemmungen, sich in der Kita beraten zu lassen als etwa beim Jugendamt?

Ja, weil sie die Erzieherin schon kennen, mit den Räumlichkeiten vertraut sind. Risikobelastete Familien fahren kaum in andere Stadtteile. Es ist sinnvoll zu schauen, welche Einrichtungen es für Eltern und Kinder in zwei bis drei Kilometern Umkreis gibt – so nahe, dass man sie mit dem Kinderwagen abfahren kann – und die dann zu vernetzen.

Die CDU hat hier also einen Volltreffer gelandet?

Meiner Meinung nach schon. Wobei viele Kindertagesstätten schon vorher vernetzt gearbeitet haben und jetzt eben Familienzentren heißen. Der neue Name regt aber auch andere Einrichtungen an, über Vernetzungen nachzudenken.

Wäre der Vater von Kevin, der durch die Medien ging, in ein Familienzentrum gegangen?

Nein. Dieser Vater hätte einen Entzug gebraucht. Auch wenn ich den Einzelfall nicht so gut kenne – das Kind hätte viel früher aus der Familie genommen werden müssen. Trotzdem finde ich das Modell der Familienzentren zukunftsweisend, weil man die Kinder und Eltern früh erreicht. 95 Prozent aller Kinder in Deutschland gehen in den Kindergarten.

Und wie erreicht man die anderen fünf Prozent?

Tja, wie kommt Prävention zu den Eltern? Wenn ich das wüsste, würde ich einen Nobelpreis bekommen. Ein paar Ideen hätte ich da aber schon.

Nennen Sie doch mal eine.

Ein Care-Mobil: Kleine Busse mit Spielgeräten fahren in Problem-Stadtteile. Sie fahren zu Spielplätzen, Mitarbeiter sprechen Eltern an. So erfährt man etwas über ihre Lebenssituation und kann ihnen auch passende Hilfen anbieten.

Zur Zeit werden Pflichtuntersuchungen beim Kinderarzt diskutiert. Beugt das Verwahrlosung vor?

Die Untersuchungen sind sinnvoll und wichtig. Aber wie will man das sanktionieren, wenn die Eltern nicht kommen? Das Kindergeld kürzen?

Auch diese Forderung gibt es.

Das geht überhaupt nicht. Es gibt ja Gründe, warum Leute nicht zu den Untersuchungen gehen. Man kann unterstellen, dass sie nicht kommen, weil sie ihre Kinder grün und blau geschlagen haben. Aber das ist nicht in allen Fällen so, es kann auch andere Gründe dafür geben, dass Eltern es nicht schaffen, ihre Isolation zu durchbrechen. Es ist aber auch möglich, mit Belohnung zu arbeiten: Wer zur Untersuchung geht, kriegt ein Geschenk, etwa ein T-Shirt. Wenn Kinder sehen, dass andere im Kindergarten so ein T-Shirt haben, fordern sie zu Hause: „Ich will auch zur Untersuchung und so ein T-Shirt“. Solch ein Modell gibt es inzwischen unter dem Namen: „Ich geh zur U und du?“ von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Das übt auch Druck auf die Eltern aus, aber positiven.