Stumme Schreie

Eine Kunstaktion zum Gedenken der Opfer oder Grabschändung? Die Fotoausstellung „Strahlende Orte“ auf Kampnagel dokumentiert ein streitbares Kunstprojekt: Graffiti in Tschernobyl und Prypjat

Es wäre die perfekte Inszenierung einer Welt nach dem Super-GAU. Wäre es nicht tatsächlich eine Welt nach dem Super-GAU. 20 Jahre nach der Katastrophe dokumentiert die Ausstellung „Strahlende Orte“ auf Kampnagel den Verfall von Tschernobyl und dem benachbarten Prypjat – und greift auf kontroverse Weise in das Trümmerfeld ein.

Am 26. April 1986 explodierte der Reaktorblock 4 des Kernkraftwerkes in Tschernobyl. Mehr als 350.000 Menschen wurden evakuiert. Wie viele der Strahlung zum Opfer fielen, ist ungeklärt.

Im Oktober 2005 machte sich eine achtköpfige Gruppe junger deutscher, russischer und weißrussischer Künstler auf den Weg in die militärische Sperrzone. Eigentlich ein Besuch wie abenteuerlustige Touristen ihn mittlerweile regelmäßig unternehmen. Doch dann kramten sie Sprühdosen aus dem Rucksack und begannen die Ruinen mit Acryllack zu bearbeiten. Gesichter, im stummen Schrei erstarrt, schwarze Silhouetten spielender Kinder, riesige Blumen: Die Gruppe um die Initiatoren Sergey Abramchuk und Vitali Shkliarou, die als Kinder Zeugen der Katastrophe wurden, fügte ihre Werke behutsam in visuelle Kontexte ein.

„Es ist kaum zu beschreiben, wie es ist, an diesem Ort zu sein“, erzählt der Berliner Künstler Tobias Starke. „Das Einzige was da ist, ist die Stille. Man hört wirklich nichts. Das ist erst entspannend, dann unheimlich, dann können Panikattacken folgen.“

Die Fotos, die sie mitgebracht haben, machen diese unbeschreibliche Stille sichtbar. Das Riesenrad auf dem Rummelplatz von Prypjat etwa war gerade aufgebaut, als der Ort zur Geisterstadt wurde. Regen hat die Skelette von Lastern tief in den Boden gewaschen. Ihr Lack ist von einem Netz aus Rissen übersäht. Auf der Kinderstation des Krankenhauses liegt eine Puppe mit dem Gesicht im zentimeterdicken Staub. Wasserblaue Wandfarbe fällt in tellergroßen Lappen zu Boden. Draußen haben Birken ihre Wurzeln geduldig durch den Asphalt getrieben. Dazwischen die Wandbilder.

Das ungewöhnliche Projekt der Gruppe findet nicht nur Anhänger. „Grabschänder“ seien sie, sagen Kritiker – und erklären die bizarre Stadt quasi zum Mahnmal. Doch Starke und seine Mitstreiter verstehen sich nicht als Vandalen. Vielmehr möchten sie das vergessene Grauen ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Mit dem Bemalen von Fassaden greifen sie dabei zu einer Kunstform, die in der lebendigen Stadt beheimatet ist. Ohne das Leben drumherum – das wird beim Betrachten der Fotos deutlich – ergibt Graffiti gar keinen Sinn. Die eigentliche Frage lautet also nicht: Was machen diese Bilder hier? Sondern: Was ist aus den Menschen hier geworden?

Man mag den Kopf schütteln über die Wahl der Mittel. Doch Kritiker müssen sich eingestehen: Jeder Zorn, den sie auf die Künstler herabregnen lassen, wendet sich prompt gegen sie selbst. Beweist er doch, dass die Werke eine Debatte wider das Vergessen angestoßen haben.

Auf dem Rückweg nach Kiew sagte der Taxifahrer zu der Gruppe: „In 20 Jahren seid ihr die Ersten, die etwas hier gelassen haben. Danke.“ MB

Kampnagel, Hamburg. Bis 11. November. Geöffnet ab 19 Uhr an Tagen mit Abendvorstellung. Der Eintritt ist frei.