Typ 3: „Sozial Schwache“

„Institutionen sind nicht für Herzenswärme zuständig“

AUS FRANKFURT (ODER) BARBARA BOLLWAHN
UND HANS-PETER STIEBING (FOTOS)

Der arme Mann ist tot. Verblutet in einer Plattenbauwohnung. Erste Etage, Heinrich-Hildebrand-Straße, Stadtteil Neuberesinchen, Frankfurt (Oder), Brandenburg, Deutschland. Die Beute der 16 und 17 Jahre alten Täter: 3 Euro, mehr hatte der 56-jährige Alkoholiker an seinem letzten Lebenstag nicht bei sich.

Das Verbrechen geschah Anfang September ausgerechnet in einem Haus, in dem Menschen in Not – Obdachlosen, Hartz-IV-Empfängern, Armen eben – geholfen wird: Im Erdgeschoss betreibt die Frankfurter Arbeitsloseninitiative das „Domizil“, eine Einrichtung für Bedürftige. Davon gibt es in Frankfurt (Oder), wie in jeder Großstadt, immer mehr. Wenn der Schnaps alle ist, wenn es kalt und nass wird in den Parkanlagen der Stadt an der deutsch-polnischen Grenze, bekommen sie hier eine warme Mahlzeit, keinen Alkohol – der ist verboten. Sie können ihre Wäsche waschen, duschen, manchmal kommt auch jemand mit aufs Amt.

Domizil hilft denen ganz unten. Um die aber, die nicht dort landen wollen, kümmert sich „Miteinander Wohnen“. Die Vereinsräume liegen direkt um die Ecke, auf der Rückseite des Hauses in der Hildebrand-Straße. Und als ginge es in Neuberesinchen stets nur um Existenzielles, finden sich daneben die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft und gegenüber die Feuerwehr.

Miteinander Wohnen kann nur denen helfen, die das auch wollen. Die Mitarbeiter können nicht therapieren oder betreuen. Auch wenn es nach Sterbehilfe klingt: sie können nur begleiten. Derzeit 32 Personen in 25 Haushalten. Sie helfen, Miet- und andere Schulden zu begleichen, Formulare auszufüllen, sie schmieren Schulbrote, die sich die Kinder aus dem Viertel jeden Morgen für 20 Cent abholen können. „Kinder und Jugendliche können hier nachmittags Hausaufgaben machen, wenn ihre Eltern trinken“, erzählt eine Mitarbeiterin. Seit Beginn dieses Jahres sind schon 2.800 Kinder gekommen.

Träger des Vereins ist der größte Vermieter der Stadt, die Wohnungswirtschaft GmbH (Wowi). Das Unternehmen betreibt damit Präventionsarbeit in eigener Sache. „Vandalismus, Ruhestörung und Rücksichtslosigkeit gegenüber Mitmenschen, aber auch Ausgrenzung und Vereinsamung nehmen zu“, heißt es in einem Faltblatt des Vereins, „Mieter, die wirtschaftlich in der Lage sind, sich auf dem freien Wohnungsmarkt mit Wohnraum zu versorgen, ziehen aus. Der soziale Frieden in einigen Wohngebieten der Stadt gerät zunehmend in Gefahr.“ Deutliche Worte, die vor allem ein ganz bestimmtes Wohngebiet der Stadt an der Oder meinen: Neuberesinchen.

Hier bewirtschaftet die Wowi mehr als 1.300 Wohnungen, und hier vor allem hat sie mit Mietschulden und 20 Prozent Leerstand zu kämpfen. „Beresinchen“ ist ein sorbisches Wort, es heißt Birkenwäldchen; den schönen Namen trägt das drittgrößte Neubaugebiet in ganz Brandenburg. Zwischen 1977 und 1989 wurden hier 9.200 Plattenbauwohnungen gebaut, nahezu jeder vierte Frankfurter zog her, die Leute rissen sich um die Wohnungen mit Zentralheizung und Balkon. Doch von den einst 22.000 DDR-Bürgern sind nur 10.000 Bundesbürger geblieben, trotz millionenschwerer Sanierungen und Abriss leerstehender Blöcke. Viele von denen, die in Neuberesinchen leben, sind arm. In dem Sinne, den Armut in Deutschland heute meint: ein Dach über dem Kopf, aber knapp bei Kasse und ohne Perspektive.

Auch die Mörder des 56-jährigen Hans-Jürgen Sch. sind hier groß geworden. Marcel W., der eine der beiden, musste am Tatabend nur seine Wohnung verlassen und zwei Etagen tiefer gehen, um auf sein Opfer zu treffen, er wohnte mit seinem Vater in der dritten Etage. Die Jugendlichen bedrohten ihr Opfer mit dem Messer. Weil das, ein Bekannter des eigentlichen Mieters, nur ein paar Münzen bei sich hatte, stachen die Schüler es nieder, anschließend durchsuchten sie die Wohnung. Als der Wohnungsinhaber am nächsten Morgen nach Hause kam, fand er Hans-Jürgen Sch. tot auf dem Boden, er war infolge eines Stichs in die Schlagader am rechten Oberschenkel verblutet.

Es ist nicht so, dass Neuberesinchen verwahrlost aussieht. Der Rasen ist gemäht, es gibt Spielplätze und Skulpturen. Erst auf den zweiten Blick fällt draußen auf, was drinnen passiert: Viele Klingelschilder sind leer, die Fenster der verlassenen Erdgeschosswohnungen sind eingeschlagen oder mit einer dicken Schmutzschicht überzogen, im Eingangsbereich fehlen Lampen, Regenrinnen sind löchrig. Einer der meistgenutzten öffentlichen Plätze ist die Freifläche vor dem Einkaufszentrum Hep am Ende der Hildebrand-Straße. Dort stehen schon vormittags um zehn Grüppchen von jüngeren und älteren Männern. Sie trinken „Stierbier“, die Flasche kostet 30 Cent.

Neuberesinchen ist noch immer der einwohnerstärkste Stadtteil, obwohl von einst 86.000 Frankfurtern schon 23.000 weggezogen sind. Eine aktuelle soziodemografische Untersuchung durch die Stadtverwaltung unterteilt die Frankfurter in sechs „Personentypen“: von Studenten über die Elterngeneration bis zu sozial Starken. In Neuberesinchen gehören 63 Prozent zu Typ 3: „Sozial Schwache“. Meist männlich, geschieden und auf Hartz IV. Wer Arbeit hat oder finden will, zieht weg, Anonymität, Hoffnungslosigkeit und Verwahrlosung ziehen ein, die Untersuchung nennt solch eine Gegend „Fortzugsgebiet“. Was bleibt, sind das Klappern von Bierflaschen in Stoffbeuteln, wachsende Gleichgültigkeit und Gewalt, die erschreckt und fassungslos macht.

So wie im Juni 1999, als in einem Wohnblock, wenige Minuten von der Hildebrand-Straße entfernt, eine junge Frau ihre zwei kleinen Söhne zwei Wochen lang in der Wohnung zurückließ, um mit ihrem Freund zusammen sein zu können. Später fand man die Kinder, verhungert und verdurstet.

Und im Juni 2004 quälten drei Neonazis in der gleichen Straße einen jungen Mann stundenlang und bestialisch fast zu Tode. Zwei junge Frauen sahen zu und feuerten die Täter noch an.

Ein Jahr später wurden in dem nahegelegenen Dorf Brieskow-Finkenheerd die Knochen von neun toten Babys gefunden – die Mutter hatte ihre sterblichen Überreste jahrelang in Blumengefäßen auf dem Balkon ihrer Frankfurter Neubauwohnung aufbewahrt.

Und nun der Mord an dem Obdachlosen, und wieder Neuberesinchen. Ein Einzelfall? Oder ein gar nicht überraschendes Phänomen in einem Stadtteil, in dem sich viele Menschen aufgegeben haben und für Hilfe nicht mehr erreichbar sind? „Hier werden Kinder groß, die sind eigentlich ohne Chancen“, sagt Ronald Schürg. Der Geschäftsführer der Wowi ist auch der Vorsitzende von Miteinander Wohnen.

„Hier werden Kinder groß, die sind eigentlich ohne Chancen“

Marcel M. und sein Vater leben seit 2003 in dem Block in der Hildebrand-Straße. „Marcel hat eine Förderschule besucht, er war freundlich und zuvorkommend“, sagt Jörg-Peter Foth. Der 56-jährige Mitarbeiter des Vereins kennt den Jungen, schließlich hat er im Haus gewohnt. „Er kam oft vorbei und fragte, wie’s geht.“ Foth glaubt, dass ihn der andere Jugendliche, der 17-jährige Sven W., „da mit reingerissen hat“. Seit Marcel im Gefängnis sitzt, trinke der Vater, der seit vielen Jahren arbeitslos ist, nicht mehr. „Er macht sich so viele Vorwürfe.“

Auch Wolfgang Schmidt kennt die beiden inhaftierten Jugendlichen, er ist seit acht Jahren Jugendgerichtshelfer in Neuberesinchen. Marcel und Sven waren schon einmal auffällig. Kleine Delikte, nichts mit Gewalt, wie er betont. Doch die gemeinnützige Arbeit, die sie dafür leisten mussten, hat sie offenbar nicht beeindruckt. „Ich war betroffen und überrascht nach dem Mord“, sagt der grauhaarige Mann. Die Familienverhältnisse der Täter beschreibt er als „nicht ganz einfach“, das Wort „Unterschicht“ nimmt er nicht in den Mund. Sind das nicht viele in Neuberesinchen?

Marcel und Sven kennen sich von der Förderschule für geistig Behinderte hier im Stadtteil. Die Jugendlichen und ihre Familien seien nicht ohne Betreuung gewesen. „Die Helfer sind bemüht“, sagt Schmidt, „aber sie können nicht in jede Ecke gucken.“ Und wenn die Eltern nicht kooperierten, sei es „ein Knochenjob für Psyche und Seele“. Oft kommen die Eltern von Jugendlichen, denen eine Anklage ins Haus steht, nicht mal zu den Gesprächen bei der Jugendgerichtshilfe. Viele lassen sich auch nicht bei den Verhandlungen blicken. „Ein Teil von denen hat resigniert.“ Dann sagt Schmidt: „Ich bin manchmal auch hilflos.“

Cornelia Scheplitz, die Leiterin des Frankfurter Jugendamts, kennt die Fragen nach dem Warum. Die Frau mit den hochgesteckten blonden Haaren musste 1999, als in Neuberesinchen die beiden Kinder verdurstet waren, scharfe Fragen nach der Rolle des Jugendamtes beantworten. „Die Öffentlichkeit sucht nach Antworten, weil sie reagieren will“, meint Scheplitz. Aber die Hintergründe solch grausamer Taten seien so komplex, dass es „die Antwort“ nicht gebe. Viele Kinder in diesem Land seien in höchstem Maße emotional vernachlässigt. „Wie soll ein Jugendamt das auffangen?“ Ihre Antwort klingt wie eine Kapitulation. „Institutionen sind nicht für Herzenswärme zuständig.“ Noch, sagt sie, seien die nötigen Hilfsangebote „im Wesentlichen da“. Doch wie es in Zukunft sein wird, weiß sie nicht.

Die Zukunft trägt den Namen „Stadtumbau“. In den nächsten vier Jahren sollen in Frankfurt (Oder) 7.500 Wohnungen abgerissen werden, ganze Straßenzüge werden fallen. „Neuberesinchen ist dazu prädestiniert, ein Sport-, Spaß- und Naherholungsgebiet zu werden“, schwärmt Ronald Schürg von der Wowi vor 500 Frankfurtern. Sie sind gekommen, um zu hören, was aus ihrem Stadtteil werden soll. Der Geschäftsführer klingt, als sehe er eine beschwingte Zukunft für die Typ-3-Gegend. In seiner Funktion als Vereinsvorsitzender von Miteinander Wohnen sagt Schürg: „In zehn Jahren wohnt hier die Klientel, um die wir uns jetzt bemühen.“

Die Leiche des armen Mannes wurde nach der Obduktion freigegeben. Weil die Stadt keine Angehörigen ermitteln konnte, wurde für Hans-Jürgen Sch. eine Bestattung von Amts wegen angeordnet. Er wurde eingeäschert und auf dem Hauptfriedhof unweit der Heinrich-Hildebrand-Straße beigesetzt. Anonym.