nebensachen aus washington
: Naturtalente in Sachen Medien

Wer denkt, dass die Fantasie in Hollywood wohnt, wird nach einiger Zeit in den USA feststellen dass dem keineswegs so ist. Die Drehbuchautoren und Inszenierer dort erfinden keine Geschichten. Denn Amerika schreibt seine Drehbücher selbst. Texanische Kettensägenmassaker, wahnsinnige Schönheitschirurgen, Gutmenschen aus der Bronx und Psychopaten im Weißen Haus, alles business as usual in den Zeitungen des Landes. Hollywoods Kunst besteht darin, dies einfach weltweit als vergnügliche Unterhaltung zu verkaufen.

Viele Menschen, besonders die zwischen Maui und Manhattan, sind in einer umgekehrten Schlussfolgerung dann auch felsenfest davon überzeugt, dass das, was aus Hollywood kommt, ‚wahr ist‘. Was ja, folgt man dieser Logik, nicht falsch ist. Deshalb bezeichnen irgendwelche Fachleute die US-Gesellschaft als im höchsten Grade „medienkompetent“.

Als Journalistin finde ich das natürlich sehr angenehm, man arbeitet schließlich lieber mit Könnern zusammen. So passierte es mir neulich, dass ich einen älteren Herrn, so um die 80, interviewte. Er hatte draußen auf dem Land in Maryland den Wohnsitz George Marshalls zusammen mit Gleichgesinnten aufgekauft, renoviert und in ein kleines Museum verwandelt. Als ich ihn um ein Interview zum Erbe Marshalls, jawohl der mit dem Marshall-Plan, bat, lenkte er mich in einen akustisch ruhigen Raum, nahm eine aufrechte Haltung an und fragte wie ein Profi, ob das Band schon laufe, dann machte er „one, two, three“, eine Tonprobe, und fragte, ob es eher ein kurzes Statement werden solle oder er etwas ausholen dürfe. Ich war beeindruckt. Dieser Gentleman war Medienroutinier, kein Politiker, kein Sprecher. Er war in seinem Berufsleben Mitarbeiter einer Behörde gewesen. Na gut, dachte ich. Ein medienkompetentes Naturtalent.

Die nächste mediale Überraschung folgte einige Tage später. „Breaking news“ im CNN-Nachrichtenmagazin „Paula Zahn“. Eine Mutter aus San Francisco hat drei ihrer vier Kinder von einem Steg in den eiskalten Pazifik und damit in den Tod geschubst. Das Ganze ist sechs Stunden her. Eine Reporterin steht auf dem Steg, man sieht Bilder der Mutter, verstört, apathisch, dick.

CNN schaltet zum Onkel der Frau, einem arbeitslosen Schwarzen aus einem Vorort von San Francisco. Sein Wohnzimmer kurzerhand in ein Nachrichtenstudio verwandelt, nimmt er die Schalte an. „Hallo Paula, danke für die Anteilnahme. Also Chaunese zeigte schon seit Jahren ein auffälliges Verhalten, das begann 1998 …“ Wir Zuschauer erfahren in präzisen Sätzen, was war, was die Familie denkt und wie sie dagegen kämpfte, dass Chaunese von den Ärzten ohne Behandlung nach Hause geschickt wurde. Und dann, „Danke Paula, ich gebe jetzt zurück ins Studio nach Atlanta!“ Der Mann hatte noch nie in seinem Leben eine Live-Reportage gemacht, geschweige denn vor einer CNN-Kamera ein Interview gegeben. Doch es war – perfekt.

Nun aber geht die Mediendurchdringung des amerikanischen Imperiums offenbar so weit, dass es seinen individualistischen Individuen manchmal schwerfällt, sich in der faden, unverfilmten Wirklichkeit noch so zurecht zu finden. Kürzlich meinte eine elfjährige Schülerin aus dem Washingtoner Ghetto ganz selbstverständlich, dass sie Forensikerin werden will. Fo-was, bitte? Klar, heute schauen junge Mädchen nicht mehr Denver oder Dallas und wollen Ehefrau werden, sondern sie gucken „CSI: Miami“, wo sexy Gerichtsmedizinerinnen verzwickte Morde aufklären. Außer der Elfjährigen wollte übrigens die halbe Schule Forensiker werden.

Meine Freundin Robin, die vor einigen Monaten per Los in eine Jury berufen worden war, kam neulich genervt zu unserem Treffen: „Der Richter hat die Jury aufgelöst, die ganzen Wochen waren umsonst.“ Was war passiert? Der Richter hatte die Nerven verloren und alle vorerst nach Hause geschickt. Er hatte die zehn Jurymitglieder angefahren: „Sie dürfen in ihrer Rolle als Jury keine flammenden Plädoyers halten und schon gar nicht dauernd rufen ‚Ich erhebe Einspruch, euer Ehren‘. Wir sind hier nicht beim Gerichts-TV, das ist, hallo, die Realität!“ ADRIENNE WOLTERSDORF