An der Front

AUS SADR CITY CARSTEN STORMER

Es fängt an mit einem Kribbeln in den Zehenspitzen, es wandert die Venen hoch, bis zum Brustkorb. Dort drückt es ihr wie eine eiserne Hand den Herzmuskel zusammen, lässt den Atem flach und den Kopf leer werden. Für einen Augenblick wird sie von der Vorstellung gelähmt, sie könnte sterben. Sie möchte sich klein machen, verstecken vor dem Tod, der in den Straßen lauert. Sie sehnt sich nach Familie, die unerreichbar scheint, nach Alltag, Kino, Burger King. Solche Gedanken rasen ihr in den letzten Sekunden vor jedem Einsatz durch den Kopf. Dann bindet sie die langen, schwarzen Haare zum Knoten, küsst das Foto ihres Ehemannes und wackelt wild mit den Schultern, als könne sie so die Angst abschütteln. Auf den wenigen Schritten vom Büro zu ihren Soldaten verwandelt sie sich von einem ängstlichen Mädchen in ein Alphatier.

Leutnant Claudia Spiers, 33, wirft sich ihre schusssichere Weste über, stülpt den Helm auf und setzt sich auf die Motorhaube eines gepanzerten Wagens. Lagebesprechung vor der täglichen Patrouille. Ruhig sei es gewesen für irakische Verhältnisse, gestern in Bagdad, meint Spiers. Nur 43 Anschläge, sonst sind es durchschnittlich 53. „35 Sprengsätze, 3 Raketen, 5 Mörser. Seid wachsam, und haltet die Augen auf! Da draußen herrscht Krieg, und die wollen uns tot sehen. Los geht’s“, sagt Spiers. Spiers ist eine von zwei Offizierinnen der 258. Militärpolizeikompanie im Camp Rustymiya, gelegen am südöstlichen Stadtrand von Bagdad. In der Stadt verlieren täglich amerikanische Soldaten ihr Leben. Spiers befehligt 32 Soldaten, 4 davon sind Frauen.

Bis vor wenigen Jahren bedeutete eine Karriere bei der Army für Amerikanerinnen etwa so viel Aufregung wie eine Schicht bei Wal-Mart an der Kasse. Mit dem Unterschied, meint Spiers, dass man seinem Vorgesetzten nicht salutieren musste. Frauen dienten in allen amerikanischen Kriegen, im Revolutionskrieg, in Vietnam, im ersten Golfkrieg. Dass sie sich nun in einem Krieg befinden, wo auf sie geschossen wird, und dass sie zurückschießen müssen, das ist neu. Denn offiziell ist es Frauen verboten, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Im Irak verläuft ein sehr schmaler Grat zwischen dem, was sein soll, und dem, was tatsächlich passiert. Die feine Trennlinie zwischen den Geschlechtern ist verschwunden, seit es keine definierbare Front mehr gibt, seit immer weniger Rekruten in einen ungeliebten Krieg ziehen wollen und sich Frauengruppen für die Gleichberechtigung an der Front einsetzen. Im Irak hat die klassische Kriegführung ihr Ende gefunden. Die Front ist überall. Jedes Haus, jede Straßenecke, jedes Auto, jeder am Straßenrand platzierte Müllsack ist verdächtig. Die Sprengsätze der Iraker sind zum größten Feind der Amerikaner geworden.

Ein Albtraum wird wahr

Nie zuvor sind mehr Soldatinnen in einem amerikanischen Krieg gefallen: 55 seit 2003, durch feindliches Feuer oder Bombenanschläge. Das sind nur zwei Prozent der gesamten amerikanischen Verluste – aber deutlich mehr als die acht Krankenschwestern, die im Vietnamkrieg umkamen.

Das Einsatzgebiet von Claudia Spiers ist Sadr City. Ein überbevölkerter Bagdader 3-Millionen-Einwohner-Slum, Schiitenhochburg und Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen amerikanischen Truppen und der Mahdi-Miliz des Herrschers von Sadr City, Muktadr al-Sadr. Ein Käfig, in dem Amerikaner geduldet, aber verhasst sind.

Die Kolonne aus drei gepanzerten Fahrzeugen rast die dreispurige Schnellstraße entlang. Sie wird von den Amerikanern Delta genannt und verbindet Rustymiya mit dem Stadtzentrum. Im Wagen herrscht Nervosität, keiner spricht, jeder starrt bewegungslos aus den Panzerglasfenstern. Draußen zischt das zerstörte Bagdad vorbei, das in Rechtlosigkeit versinkt. Eine erschöpfte Stadt, die langsam stirbt. Hier lauern Sprengladungen, die Panzerungen durchschlagen können. Der Bagdader Morgenverkehr liegt wie ein träger, stählerner Salamander in der Sonne.

Beim Anblick der heranrasenden Amerikaner teilt sich das Meer aus Autoblech. „Wer nicht reagiert, wird gerammt oder beschossen“, sagt Spiers. Das müsse so sein, um amerikanische Soldaten zu schützen. Zu oft schon hätten sich Selbstmordattentäter in ihren Autos in die Luft gesprengt. „Es ist schon ein beklemmendes Gefühl, Zielscheibe zu sein. Hier draußen ist nichts Routine. Man kann es hundertmal gemacht haben, es ist jedes Mal anders. Mein größter Albtraum ist, einen Soldaten zu verlieren.“

Am 13. März wurde Spiers’ Albtraum wahr. Vor ihr lag Sergeant Bryan Lewis, 33. Ein Sprengsatz war neben seinem Wagen explodiert, das Schrapnell hatte Rücken und Hals durchschlagen. Lewis war der erste Tote aus Spiers’ Einheit.

„Als wir hierherkamen, wussten wir, dass es nicht alle schaffen würden“, meint Spiers. Trotzdem fühlte sie Schuld. „Damit muss man erst mal fertig werden: Ich schicke Menschen raus, die dann tot zurückkommen.“ Und dann die Fragen: Was wäre gewesen, wenn ich eine andere Route ausgewählt hätte? Was wäre gewesen, wenn er später losgefahren wäre? „Immerhin habe ich ihm den Befehl gegeben.“ Die Fragen stolpern aus ihrem Mund. Das Leben ging weiter, wie es die Dienstvorschrift fordert – mit dem Wissen, dass man selbst so nicht enden möchte.

Was wollt ihr hier?

Der Konvoi rumpelt durch schmale Gassen der Elendsviertel von Sadr City. Aus aasigen Sickergruben schlägt der Gestank von Kot und Fäulnis, wie eine scheußliche Hand legt er sich auf Mund und Nase. Ziegen wühlen in Abfallbergen, auf denen am Morgen die Toten der Nacht verscharrt wurden. Schrottberge türmen sich vor Hauseingängen. Dazwischen lungern Halbstarke, spielen Kinder, sitzen Männer mit langen, weißen Bärten. Manche rufen Worte, in Arabisch, in bestürzender Fremdheit und Farbe. In ihren Blicken liegen Neugier und Ablehnung und Widerstand, als wollten sie sagen: Was wollt ihr hier? Das alte System ist kaputt, das neue hat keiner verstanden.

Zwei Welten, grotesk in einander verhakt. Kinder winken den Soldaten zu, Spiers winkt mit gefrorenem Lächeln zurück. „Ich bin froh, dass ich aus dem Lager rauskomme. Hier kann ich tun, wofür ich ausgebildet wurde, und bin näher an den Menschen.“ Näher an Menschen, die ihre Hilfe nicht wollen, von denen manche ihr „gerne eine Kugel verpassen würden“, das weiß Spiers. Und die Risiken, die Gefahr? „Ach“, sagt sie, „ich lass mich nicht verrückt machen.“ Deshalb blendet sie die Realität aus. Spiers liest keine Zeitung und sieht keine Nachrichten. Sie lässt die Welt nicht in ihr Leben, um nicht ständig ans Sterben denken zu müssen. „Nur die Informationen, die meine Arbeit betreffen. Und das reicht schon.“

Dennoch, nie hätte sie gedacht, so nah an Kampfhandlungen zu geraten. In Bagdad, sagt sie, fühlt man sich umzingelt, nichts scheint normal. Aber sie habe ihre Einheit, auf die könne sie sich hundertprozentig verlassen. Ihr Lächeln verbirgt ihre Angst, so wie die Müllberge die Bomben verdecken, die am Straßenrand liegen.

Manchmal sei es schwer, als Frau ernst genommen zu werden, sagt sie. Natürlich nur von Männern: Weil Krieg Männerarbeit sei, und Frauen ohnehin mental und körperlich schwächer und langsamer. Zwar salutieren sie vor einer ranghöheren Frau. Doch hinter vorgehaltener Hand nennen sie ihre Kolleginnen „War-Barbies“. Außerdem, so lautet eine weitere ihrer Weisheiten, gerieten Frauen schneller in Panik, wenn auf sie geschossen werde. Und natürlich lenkten Frauen im Kriegsalltag, in dem Pornografie und Alkohol verboten sind, Männer von der Arbeit ab. Statt Krieg zu spielen, sollten sie lieber Kinder großziehen. Claudia Spiers kann darüber nur lachen. „In meiner Einheit sind alle gleich. Ich werde nicht als Frau betrachtet, sondern als Soldat. Und wenn ich ihnen etwas befehle, dann nehmen sie den Befehl nicht von einer Frau, sondern von einem Leutnant entgegen.“

Spiers wendet sich wieder dem Leben auf der Straße zu, es könnte aus einem Endzeitfilm stammen: Ein Mädchen steht barfuß in einer Pfütze aus schwarzer, zäher Bracke. Da fliegen Steine, der Bordschütze sackt getroffen ins Wageninnere, hält sich den Nacken. „Scheißbälger!“, schimpft sie, „manchmal wünschte ich mir, ich dürfte auf sie schießen.“

„Das ist so erniedrigend“

Krieg ist eine Welt, in der Respekt nicht Kameradschaft einschließt. In der Kantine von Camp Rustymiya sitzt Claudia Spiers oft allein, manchmal mit ihrer besten Freundin, Leutnant Susan Pletz, der zweiten Offizierin in ihrer Kompanie. Beim Essen baumeln ihre Pistolen lose im Halfter am Oberkörper. Jede Intimität hier ist öffentlich, nach außen hin greifbar. Es ist unmöglich, einfach wegzulaufen, ausgeschlossen, mal laut zu schreien. Immer ist jemand in der Nähe, es gibt kein Rückzugsgebiet.

Abends, wenn der Papierkram erledigt ist, zieht Spiers sich allein in die zwölf Quadratmeter zurück, die ihr Büro und ihr Schlafzimmer sind. Neonlicht, graugetönte Wände, grauer Spind. Die Fotos ihrer beiden Stiefkinder und des Ehemanns als einzige Farbtupfer. Ab und zu klopft einer ihrer Soldaten an, um die Befehle für den nächsten Tag zu besprechen. Nur selten kommt jemand, um ihren Rat einzuholen. „Das ist ja auch kein Leben, wo man sich zum Klatsch zusammensetzt und sagt, hey, weißt du, was heute passiert ist“, meint Spiers. Man hat anderes zu tun.

Als am nächsten Tag der Konvoi das Camp verlässt, rollt ein dumpfes Grollen über Sadr City. Kein Gewitter, der Himmel ist blau. „Hellfish six, hellfish six. Hier Charly two …“, krächzt es aus dem Funkgerät. Ein Selbstmordattentäter hat sich in einem Gerichtsgebäude in den Tod gesprengt, er hat elf Menschen mitgenommen. Offene Geländewagen der irakischen Polizei überholen mit Blaulicht die amerikanische Patrouille. Auf den Ladeflächen liegen grässlich zugerichtete, blutende Menschen. Dann fallen Schüsse. Die Kugeln prallen an der Panzerung ab. Der Konvoi rast zurück ins Camp: Alltag in Bagdad.

Abends sitzt Claudia Spiers über einen Stapel Papiere gebeugt. Da durchschneidet ein schrilles Pfeifen die Luft, dann drei Explosionen. Eine Sirene heult. Rustymiya wird, wie so oft, mit Mörsern beschossen. Spiers verdreht die Augen, sie springt auf und rennt in den Bunker vor ihrer Baracke. „Mann, das ist so erniedrigend. Ich bin es leid, dass ständig Mörser auf meinen Kopf fallen.“ Manchmal, sagt sie, sind die Einschläge so nah, dass sie denkt: „Game over.“ Nach einer Stunde Kauern in einer Burg aus Beton und Sandsäcken folgt die Entwarnung. Zwei Tage später stirbt der zweite Soldat der 258. Kompanie durch einen Sprengsatz.