Kein Fußball am Sabbat

Daniel Alter gehört zu den ersten drei Rabbinern, die seit der Shoa in Deutschland ordiniert wurden. Seit September wirkt er in Oldenburg und Delmenhorst. Im Gespräch erzählt er über eine Begegnung in Yad Vashem, das Syndrom der zweiten Generation und die Frage: Kippa oder Baseballcap?

„Ich würde gerne glauben, dass die Shoa nur Teil meiner Geschichte ist, aber nicht meiner Identität“

AUS OLDENBURGANNEDORE BEELTE

Der studentische Lebenswandel hat Daniel Alter offenbar geprägt. Das zeigt sich spätestens, als die Korrespondentin sich verabschiedet und ihr Fahrradschloss nicht aufspringen will: Das Jacket gegen ein Sweatshirt vertauscht, eilt der Rabbiner der jüdischen Gemeinden Oldenburg und Delmenhorst mit einer Flasche Speiseöl zu Hilfe. Ein Geheimtipp aus langen Jahren, in denen Improvisationstalent gefragt war.

Für das Rabbinerstudium noch einmal auf die Hörsaalbänke zurückzukehren, ist dem Vater zweier kleiner Töchter nicht leicht gefallen. Vor seiner Ausbildung hatte Daniel Alter am Jüdischen Gymnasium in Berlin unterrichtet. Der Beruf des Rabbiners hatte den heute 47-Jährigen schon lange gereizt, doch hätte er dafür bis vor wenigen Jahren zum Studium nach England oder Israel gehen müssen. Daniel Alter gehörte zu den ersten Rabbinerstudenten, die am Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg ihre Ausbildung begannen. In diesem Jahr wurde er ordiniert, zusammen mit zwei Mitstudenten. Die erste Zeremonie dieser Art in Deutschland nach der Shoa. Unmittelbar danach trat der 47-Jährige im September sein Amt in den Gemeinden Oldenburg und Delmenhorst an.

„Ich möchte zurückgeben, was ich durch den Glauben bekommen habe“, beschreibt Alter seine Motivation. Was bekommen? Er erzählt eine Anekdote, die weniger von ihm selbst handelt als von einem ganzen Volk: Mit einer Jugendgruppe unterwegs in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, hörte er eine alte Frau nach der Gedenkstätte für den Ort kleinen Munkačevo im Westen der Ukraine fragen. Im Vorbeigehen wies er ihr den Weg, doch die Frau gab sich damit nicht zufrieden. Woher er Munkačevo kenne? Wie der Name seines Vaters laute? „Alter? Das ist mein Mädchenname“, rief die alte Frau aus.

Zufälle, ist Daniel Alter überzeugt, gibt es nicht. Dieser Moment, der ihn über Vorsehung nachgrübeln ließ, wurde für ihn eine religiöse Erfahrung. Den Zugang zum Judentum hat er sich selbst erschlossen. Seine Eltern, Überlebende der Shoa, haben ihm die Religion nicht vorgelebt. „Ich würde gerne glauben, dass die Shoa nur Teil meiner Geschichte ist“, sagt Alter, „aber nicht Teil meiner Identität.“ Aber so einfach scheint sich das nicht trennen zu lassen. Was Psychologen das „Syndrom der zweiten Generation“ nennen, unter dem die Kinder der Holocaust-Überlebenden leiden – Depressionen, Schuldgefühle, Schwierigkeiten, sich von den Eltern abzunabeln und einen eigenen Platz im Leben zu finden – kennt Alter aus eigener Erfahrung. Doch möchte er die Art, wie er sein Amt versteht, so wenig wie möglich von der Geschichte beeinflusst wissen.

Während des Gesprächs klingelt das Telefon. Daniel Alter spricht betont deutlich, fragt immer wieder: „Haben Sie mich verstanden?“ Wie überall besteht auch im Nordwesten die jüdischen Gemeinden mehrheitlich aus Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie sind ohne Zugang zur Religion aufgewachsen und müssen sich das Judentum erst erschließen. Alter spricht kein Russisch. Integration der Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft? Das sprengt für ihn den Rahmen rabbinischer Aufgaben. Mehr sorgt er sich darum, wie er die Gemindemitglieder – in Oldenburg sind es 330, in Delmenhorst gut 200 – zu aktiverer Teilnahme bewegen kann. Probleme, die sich von denen der christlichen Kirchen kaum unterscheiden.

Obwohl er an einem Institut ausgebildet wurde, das sich der liberalen Glaubensrichtung verpflichtet fühlt, möchte sich Daniel Alter nicht das Etikett „Reformjudentum“ anheften lassen. So nimmt er es genau mit den Sabbat-Vorschriften: „Ich muss nicht alles tun, was ich tun kann.“ Der Sabbat ist für die wirklich wichtigen Dinge reserviert: Für die Familie, für Gott. Kein Fernsehen, kein Stadionbesuch für den Fußballfan. Hektik nach dem Gottesdienst, Ärger über die voll gestopfte Bahn oder den Nachbarn haben an diesem Tag keinen Platz. Was die Frömmigkeit seiner Gemeinde angeht, setzt er allerdings andere Maßstäbe an. Er lebt sein Beispiel vor. Hier und da kommt es vor, dass jemand nachfragt und die Gebote auch selbst erprobt.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist jüdisches Leben weit von Normalität entfernt. Antisemitismus – darunter versteht Alter nicht nur offene Anfeindungen. Sondern auch, wenn jemand bedeutungsvoll die Stimme senkt und sich umblickt, um dann zu fragen: „Sind Sie vielleicht … Jude?“ So als sei er nicht sicher, ob das Wort ein Schimpfwort ist. Wenn der Rabbiner in der Stadt unterwegs ist, trägt er meist ein Baseball-Cap oder eine andere Kopfbedeckung. Darunter verbirgt er die Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung jüdischer Männer. In Oldenburg sei er auch schon ohne die Kappe unterwegs gewesen, für alle als Jude zu erkennen. In anderen Teilen Deutschlands würde er das nicht tun. Während andere um die Präsenz religiöser Symbole streiten, findet Daniel Alter es „keine sinnvolle Art, Präsenz zu zeigen, wenn ich mich in Gefahr begebe“.