Verwirrung um Entschädigung

RANA PLAZA I Die Ausgleichsregelung nach dem Fabrikeinsturz vor einem Jahr ist so kompliziert, dass ihre Urheber sie kaum verstehen – noch weniger die Opfer

Die Modeketten können zahlen, ohne Schuld eingestehen zu müssen

AUS SAVAR LALON SANDER

Lipy hat nichts bekommen. Nicht die 450 Euro, die es im vergangenen Jahr als Lohnfortzahlung gab, und auch nicht die 500 Euro, die nun als Anzahlung für die Entschädigung gelten. Zusammengekrümmt sitzt die 29-Jährige in der Ecke der Einzimmerwohnung ihrer Nachbarn. Was sie nun machen solle, fragt sie. An wen sie sich wenden könne?

Wie Lipy geht es vielen der Frauen und Männer, die am 24. April 2013 in einer der fünf Textilfabriken im Rana Plaza in der Kleinstadt Savar arbeiteten, als das Gebäude plötzlich einstürzte. 3.600 Menschen wurden unter den Trümmern begraben. 1.138 Menschen starben, mehr als 100 werden noch heute vermisst. Viele der anderen wurden schwer verletzt.

Immerhin scheint es inzwischen doch noch eine Entschädigung zu geben. Im Herbst 2013 einigten sich Gewerkschaften, Modefirmen und NGOs auf ein Verfahren, das viele der Beteiligten als „bahnbrechend“ feiern: Internationale Modefirmen zahlen in einen Fonds unter Aufsicht der UN-Arbeitsorganisation ILO. Das Geld wird an die ArbeiterInnen verteilt, je nachdem, wie schwer sie geschädigt wurden. So könnten die internationalen Ketten das Geld zahlen, ohne Verantwortung am Unglück eingestehen zu müssen, den EmpfängerInnen blieben lange Gerichtsprozesse erspart.

Doch irgendwie ist das Verfahren kompliziert geworden. Das liegt auch an den internationalen Firmen. Der Fonds braucht nach Schätzung der ILO etwa 29 Millionen Euro. Bisher haben 16 Firmen – darunter Milliardenkonzerne wie Kik, C&A und Walmart – gerade einmal 6 Millionen eingezahlt. Von der Regierung Bangladeschs und vom hiesigen Arbeitgeberverband kamen weitere 3 Millionen. Zudem gab es einen Alleingang der Billigmarke Primark, die den ArbeiterInnen aus einer der fünf Fabriken Ende März je 500 Euro auszahlte. Damit alle gleich behandelt werden, bekommen die restlichen ArbeiterInnen seit Mittwoch auch pauschal 500 Euro – aber vom Entschädigungsfonds. Außerdem werden täglich etwa vierzig Opfer und Angehörige der Toten in ein Büro geladen, um ihre Schäden aufzunehmen.

In Savar fragt man sich nun: Wer genau bekommt Geld? Gibt es für die ArbeiterInnen von Primark-Fabriken eine doppelte Auszahlung – von Konzern und Fonds? Wird pauschal gezahlt oder nach Schaden gerechnet? Was, wenn man Anspruch hat, aber kein Geld bekommt?

Der Entschädigungsfonds selbst hat keine Informationsstelle und auch die beteiligten Gewerkschaften wollen die Aufgabe nicht übernehmen. „Wie können wir den Arbeitern sagen, es kommt Geld, wenn der Fonds noch nicht ausreichend gefüllt ist?“, sagt Roy Ramesh Chandra, der Generalsekretär des globalen Verbundes IndustriALL in Bangladesch.

Immerhin betreibt die Regierung ein kleines Infobüro, etwa drei Kilometer von der Einsturzstelle entfernt. Vier Männer arbeiten hier, viel zu wenige für alle 3.600 ArbeiterInnen und Angehörige. „Wir beantworten von früh bis nachts Anrufe“, sagt Büroleiter Masum Khan. 200 ArbeiterInnen schaffe man pro Monat. Bei dem Tempo würde es knapp zwei Jahre dauern, bis alle erreicht sind.

Viele der Fragenden schickt Khan nach Savar zurück. In einer Nebenstraße gegenüber dem ehemaligen Rana Plaza betreiben die parteinahen Gewerkschaften Bangladeschs eine Klinik. Wer zum Zeitpunkt des Einsturzes im Rana Plaza gearbeitet hat, bekommt hier kostenlos Diagnosen, Medikamente und Physiotherapie. Und Bürochef Choudhury Borhanuddin pflegt eine Liste derjenigen, die bei den Zahlungen von Primark leer ausgingen, obwohl ihnen Geld zustehen würde. Damit scheint er das Vertrauen der ArbeiterInnen zu haben. Schon frühmorgens wartet ein gutes Dutzend Männer und Frauen auf ihn und bittet darum, in die Liste eingetragen zu werden. Auch Lipy hat ihre Daten hier angegeben, aber Fragen hat sie immer noch.