Daten ohne Grundlage

Ein Straßburger Computer blockiert das grenzfreie Europa

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Man könnte diese Geschichte als typische EU-Lachnummer erzählen. Anfang Juni standen vor einer Lagerhalle in Brüssel die Laster startklar, beladen mit modernster Computertechnologie. Die Fracht war für eine bunkerähnliche Anlage am Stadtrand von Straßburg bestimmt, wo das Schengeninformationssystem (SIS) untergebracht ist. Dort soll für eine Übergangszeit auch das mehr Mitgliedstaaten und mehr Daten umfassende, technisch kompliziertere SIS II seinen Platz finden.

Dann kam der Anruf aus Straßburg: Experten hätten ermittelt, dass der Betonboden zu dünn sei für die schweren Rechner. „Die wären sofort durch den Boden geknallt“, erinnert sich ein Kommissionsmitarbeiter versonnen. Wenig später stellte sich heraus, dass auch die Klimaanlage für die neue Technik nicht ausreichte. Sie musste ebenfalls nachgerüstet werden. Die Laster starteten 17 Wochen später. Eine Bodenverstärkung im Wert von 50.000 Euro hatte Verzögerungen zur Folge, die in den Mitgliedstaaten und im Zentralrechner Zusatzkosten in Millionenhöhe verursachen.

Und die Verzögerungstaktik geht weiter. Seit zwei Monaten weigert sich Bernard Kirch, der Leiter der Straßburger Behörde, Daten aus dem laufenden SIS den von der EU-Kommission beauftragten Informatikern zu Testzwecken zur Verfügung zu stellen. Mal ist die Datenschutzbehörde des SIS dagegen, dann meldet angeblich das französische Innenministerium, dem SIS formal untersteht, Datenschutzbedenken an. Im Kreis der EU-Mitgliedstaaten stimmten zwar auch die Franzosen für eine Überarbeitung des SIS. Doch die heikle Frage nach Standort und künftiger Organisationsform wurde vertagt – wie so oft in der EU, wenn ein Thema nationale Eigeninteressen berührt.

Deshalb handelt diese Geschichte nicht nur von einem störrischen französischen Beamten, der sich von den neumodischen Computern aus Brüssel „ein hübsches Chaos“ erwartet, wie er der taz bei einem Besuch im Juni schadenfroh erzählte. Sie handelt auch von unklaren Rechtsgrundlagen, die es EU-Kommission, neuen und alten Mitgliedstaaten leicht machen, sich die Schuld für die Zeitverzögerungen zuzuschieben.

Das alte SIS betrieben die Mitgliedstaaten formal gemeinsam, sie hatten Frankreich lediglich die Regie für die praktische Durchführung übertragen. Das EU-Parlament war nicht beteiligt. Inzwischen gehört alles, was das grenzfreie Europa, den sogenannten Schengenraum betrifft, zur gemeinschaftlichen Politik. Deshalb stimmt heute das EU-Parlament in erster Lesung über das Gesetzespaket zum SIS II ab. Damit werden zentrale Fragen der öffentlichen Sicherheit, aber auch des Schutzes zentraler Bürgerrechte endlich parlamentarischer Kontrolle unterworfen.

Die Abgeordneten aus den neuen Mitgliedsländern drängen zur Eile. Mit dem Beitritt zum Schengenraum wollen sie ihren Wählern beweisen, dass sie keine EU-Bürger zweiter Klasse sind (siehe Interview). Der konservative Abgeordnete Mihael Brejc aus Slowenien sagte, sein Land habe die technischen Vorbereitungen abgeschlossen. Die nun entstandene Verzögerung dürfe nicht zulasten der neuen Mitgliedstaaten gehen. „Dadurch entstehen Kosten. Länder, die bereits alle Bedingungen erfüllen, sollten bis Ende 2007 am SIS beteiligt werden“, forderte er.

Die Abgeordneten aus den alten Mitgliedsländern haben dagegen die politischen und technischen Probleme von SIS II im Blick. Sie warnen davor, biometrische Daten in das System einzuspeisen, ohne die Kosten und die datenschutzrechtlichen Folgen zunächst genau zu prüfen. Sie kritisieren, dass der Datenschutz für gemeinschaftliche Einrichtungen wie das neue SIS noch immer nicht geregelt ist. Ein entsprechender Rahmenbeschluss liegt im Rat fest.

Heftige Kritik übten mehrere Redner bei der Debatte am Montagabend an der deutschen Bundesregierung. Sie hatte nachträglich verlangt, dass die Geheimdienste Zugang zum SIS erhalten sollen. Der portugiesische Berichterstatter Carlos Coelho empörte sich: „Das ist nicht sinnvoll. Wir können nicht auf der einen Seite die Sicherheitsstrukturen des SIS erhöhen und es dann für Dienste öffnen, die per Definition nicht kontrollierbar sind.“ Es sei auch schlechter Stil, zwei Tage vor der Plenardebatte so tief greifende Änderungen vorzuschlagen. Seine PDS-Kollegin Sylvia-Yvonne Kaufmann ergänzte: „Geheimdienste haben im SIS nichts zu suchen. Dass sie ein Eigenleben führen, haben wir bereits erfahren müssen.“