„Niemand distanziert sich“

EXTREMISMUS Über Ungarns Abdrift in den Faschismus und Europas Reaktion informiert Karl Pfeifer

■ 82, Journalist, floh 1938 über Ungarn nach Palästina, diente in der israelischen Armee, lebt seit 1951 wieder in Wien

taz: Herr Pfeifer, 17 Prozent Ungarn haben im Frühjahr die rechtsextreme Jobbik-Partei gewählt, die vom „organisierten Judentum“ und „kriminellen Zigeunern“ spricht. Was ist los in diesem Land?

Karl Pfeifer: Es hat sich eine hemmungslose Rechte etabliert, nicht nur mit der Jobbik, sondern auch mit der völkischen Fidesz, der jetzigen Regierungspartei. Beide zusammen bekamen vier Fünftel der Stimmen.

Was bedeutet das?

Ungarn ist auf dem Weg in eine völkische Demokratie. Der Regierungschef Viktor Orban wird seine Macht hemmungslos ausnutzen, sagte ein Experte lange voraus. Nun passiert es. Die Verfassung soll geändert werden und in jeder öffentlichen Einrichtung muss die so genannte Erklärung der nationalen Zusammenarbeit hängen. Die zentralen Punkte sind Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung.

Das klingt äußerst obskur …

Am 4. Juni gab es im Parlament einen Gedenktag für die nach dem ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete. Das ist so, als würde der Bundestag einen Gedenktag für Versailles abhalten. Eine Regierungserklärung zu dieser Sache spricht vom „Gott als Herren der Geschichte“.

Gibt es eine Opposition, die aufschreit?

Die ehemals regierenden Sozialisten sind hoffnungslos zerstritten und unbeliebt. Auch die eine neue liberale Partei, die LMP, ist aber sehr widersprüchlich: Auch sie waren an jenem Gedenktag beteiligt.

Gibt es keine Kritik von außen?

Orban ist Vizepräsident der europäischen Vereinigung der Volksparteien, zu der auch die CDU gehört. Da distanziert sich niemand. Mit der EU wird Ungarns Politik aber nicht vereinbar sein. INTERVIEW: ANDREAS KOOB

18.30 Uhr, Gewerkschaftshaus, Bahnhofsplatz 22-28