die taz vor zehn jahren
: US-Debatte über die Unterschicht

Kommunitarismus entpuppt sich in den USA nicht als neue Quelle der Solidarität, sondern dient als rhetorisches Pflaster für Austeritätspolitik und als Begründung für die Beschneidung von Bürgerrechten. Mit dem Konzept einer aufgeklärten Bewegung gegen die Atomisierung der Gesellschaft, wie es einige Kommunitarier vertreten, hat das nichts mehr zu tun. Doch diese Form von Vulgär-Kommunitarismus kommt jenen recht, die in den 60er und 70er Jahren Programme zur Armutsbekämpfung unterstützt haben und heute Programme zur Armenbekämpfung beklatschen. Ihnen sprach Richard Cohen in der Washington Post aus dem Herzen: „Die städtische Unterschicht ist ja relativ klein. Aber sie hat unsere Gefängnisse überfüllt, unsere Städte in Gefahrenzonen verwandelt, und sie hat uns furchtsam und hart gemacht.“

Das hat die städtische (schwarze) Unterschicht jetzt davon, daß sie so hartnäckig Unterschicht geblieben ist: Die Geduld der Wohlwollenden und Aufgeklärten ist erschöpft. „Tough Love“, rauhe Liebe, heißt das neue Motto, mit dem sowohl die Gesellschaft von den Armen als auch die Armen von ihrer Abhängigkeit „befreit“ werden sollen. Dieses Schlagwort ist nicht zufällig zu einer Zeit in Mode gekommen, als zwei relativ neue Gruppen als Opfer des Turbo-Kapitalismus aufgetaucht sind. Die untere suburbane weiße Mittelschicht, welche die Armutsgrenze dank sinkender Reallöhne deutlich vor Augen hat. Besonders aber die Klasse der „working poor“ kann sich trotz Vollbeschäftigung nicht aus der Armut befreien.

Andrea Böhm am 26. 10. 1996