: Wo das Klischee aufhört und der Mensch anfängt
THEATER 1 Nicole Oder hat aus Güner Balcis Doku-Roman „Arabqueen“ ein Stück gemacht und es im Heimathafen Neukölln auf die Bühne gebracht – als probates Mittel gegen Pauschalurteile
VON ANNE PETER
Ausgangsverbot, Jungfräulichkeitsfrage, Zwangsheirat? Klingt ganz so, als würde man hier mal eben auf den Integrationsdebattenzug aufspringen. Trittbrettfahrerei ist allerdings das Letzte, was man den rührigen Theatermacherinnen vom Heimathafen Neukölln vorwerfen könnte. Sie setzen mit der Adaption von Güner Balcis neuem Doku-Roman „Arabqueen“ einfach die Arbeit fort, mit der sie seit anderthalb Jahren im ehemaligen Saalbau erfolgreich sind. Ihr buntes „Volkstheater“-Programm aus Alt-Berliner Komödien, schnoddrigen Gassenhauerrevuen und Sozialrealstücken aus dem Kiezalltag ist ganz auf das heterogene Lokalpublikum zugeschnitten.
Die Journalistin Güner Balci ist neben Kurt Krömer Schirmherrin dieses quirligen Orts. Ihre Erfahrungen als Sozialarbeiterin im Rollbergviertel hatte sie 2008 bereits in den Roman „Arabboy“ einfließen lassen. Nicole Oders besorgte damals die Bühnenadaption, sie wurde rasch zum Publikumsrenner und zum ersten Teil einer Neuköllntrilogie. „Arabqueen“ ist nach „Sisters“ über eine knallharte Mädchengang bereits der dritte Teil. Balcis real grundierter Roman erzählt vom Leben zweier muslimischer Schwestern, die kaum allein auf die Straße dürfen und die die sexy Klamotten, von denen sie träumen, höchstens heimlich zu Hause vorm Spiegel tragen. Was für andere junge Frauen selbstverständlich ist, müssen sie sich unter dem strengen Überwachungsblick der Eltern, Brüder und Nachbarn erst mühsam ertricksen.
Eine Altbauwand entfernt
Balci lässt uns hinter die Türen jener sogenannten Parallelwelt schauen, von der man auch dann allzu oft wenig weiß, wenn sie nur eine Altbauwand entfernt liegt. Sie benennt dabei zwar deutlich die Missstände innerhalb der deutsch-türkischen und deutsch-arabischen Community, richtet ihren Blick aber nicht einseitig denunzierend auf gewalttätige Väter, herrische Brüder und hilflose Mütter, sondern schildert deren Denkweisen und Werteverhaftung, Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle genauso nachvollziehbar wie die Ausbruchssehnsucht der Töchter. Trotzdem ist immer klar, wem die Sympathie gehört. Balci schreibt mit sozialpädagogischem Impetus, hält ihre Sätze denkbar schlicht. Sie will informieren – und aufrütteln. Am Ende von „Arabqueen“ sind die Adressen von Einrichtungen für Frauen in Notsituationen abgedruckt. Und der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky wünscht sich, das Buch möge in Schulen landen.
Wo in pauschalisierenden Statistiken und Sprücheklopfereien über die Köpfe der einzelnen Menschen hinweggegangen wird, braucht es solches Theater, das von ihrem Leben, ihren Gefühlen und Ängsten erzählt. Erstaunlich unverkrampft geht das Team dabei mit dem brisanten Stoff um. Die Regisseurin Nicole Oder erlaubt sich auf der schlichten Studiobühne mit dem Roman zahlreiche Freiheiten, zieht ihn ins Komische und verlegt ihn aus dem Wedding nach Neukölln. Diverse Figuren lässt sie links liegen, wertet andere auf, verschlankt die Story. Tanya Erartsin, Inka Löwendorf und Sascha Ö. Soydan switchen sich als fabelhaft wandlungsfähiges Trio durch alle Rollen, die auf wiedererkennbare Sprech- und Körperhaltungen gebürstet sind: Die Mutter walkt wütend ihre Teigklumpen, die Jungs schlurfen im Kapuzenpulli durch die Gegend, Mariam schaut spöttisch-stolz unter cool gesenkten Lidern, ihre deutsche Freundin Lena trägt offenherzig Pferdeschwanz.
Breit gespreizte Beine
Man wirft sich die Slangpointen zu, fällt auch mal ins Arabische und pöbelt ins amüsierte Publikum: „Was guckst du?“ Wo hört das Klischee auf, wo fängt der Mensch an, fragt diese Spielweise. Wenn Mariam mit zusammengepressten Schenkeln auf dem Sofa sitzt, während neben ihr der Verehrer die Beine weit spreizt, fängt allein dieses Bild spielerisch leicht weiblich-männliche Rollendifferenzen ein.
Das Hin- und Herspringen zwischen den Figuren spiegelt an diesem Abend einerseits das empathische Prinzip des Sich-Hineinversetzens in andere wieder, für das hier letztlich geworben wird. Andererseits wird das Theaterspiel zur Metapher für eine Gemeinschaft, die über strikte Rollenzuschreibung funktioniert und in der ein Aus-der-Rolle-Fallen nicht geduldet wird. Und wo Verstellung zur Überlebensstrategie wird. „Du bist voll die gute Schauspielerin“, bewundert Mariam ihre Tante Hayat, die sich mit gemimten Schwächeanfällen die Begleitung der Nichte erschleicht – mit der sie dann in die Disko abschwirrt.
Balci schenkt ihrer Heldin die geglückte Flucht vor der Zwangsheirat durch das Toilettenfenster eines Mädchentreffs. Bei Nicole Oder bläst Mariam schlicht die Kerzen der Verlobungsfeier aus und geht von der Bühne ab – sie verlässt ihre angestammte Rolle.
■ Nächste Aufführungstermine: 19., 20., 21. November, jeweils 20.30 Uhr, Heimathafen Neukölln im Saalbau, Karl-Marx-Straße 141
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