Lust am Demonstrieren

PROTESTSOZIOLOGIE Was passiert, wenn der DGB in der aktuellen deutschen Demohauptstadt Stuttgart auf die Straße geht? Kommt es zur Einheitsfront?

„Wenn wir was erreichen wollen, müssen wir uns verbinden“

NIKOLAUS LANDGRAF, DGB

STUTTGART taz | Die Gewerkschaften haben in diesem Jahr auf den Protest im kleinen Kreis gesetzt. Mit „Herbstaktionen“ in den Betrieben wollen sie ihre Mitglieder gegen die schwarz-gelbe Politik mobilisieren. Es soll nicht nur die eine zentrale Großdemonstration geben, deren Wirkung schnell wieder verpufft. Stattdessen will man in den Betrieben erst einmal gemeinsam diskutieren, was die Rente mit 67 und das Sparpaket bedeuten.

Doch ganz ohne öffentliche Bühne geht es nicht. Die Protestkundgebungen am Wochenende sollten daher den Höhepunkt der Herbstaktionen markieren. Nikolaus Landgraf denkt sogar in noch größeren Dimensionen. „Wenn wir was erreichen wollen, müssen wir uns verbinden“, sagt der Bezirksvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Baden-Württemberg. Was er damit meint, ist in diesen Tagen in Stuttgart sogar tatsächlich ein Stück weit gelebte Wirklichkeit: der Schulterschluss unter verschiedenen sozialen Bewegungen.

Samstagnachmittag auf dem Stuttgarter Schlossplatz: Nach der Gewerkschaftskundgebung kauft sich ein IG Metaller mit roter Mütze an einem Stand einen grasgrünen Button gegen den neuen Bahnhof „Stuttgart 21“ (S21). Am nächsten Stand liegen gelbe Anti-Atom-T-Shirts aus. Schon vor einigen Wochen vermischten sich in Stuttgart Anti-AKW- und S21-Gegner bei einem Protest gegen die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke. Doch das ist das Bild in Stuttgart. In den anderen Städten dürften die Gewerkschaften an diesem Wochenende unter sich geblieben sein.

Und auch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt funktioniert die Verbindung derzeit wohl nur, weil es den Bahnhofsstreit gibt. Abgesehen vom Kampf gegen Stuttgart 21 dürften gut betuchte BürgerInnen, die sich unter das S21-Protestvolk mischen, wenig mit Gewerkschaftern gemeinsam haben. Stattdessen scheint es vielmehr die Wut gegen „die da oben“ zu sein, die verbindet. Und nichts symbolisiert diese Wut derzeit so stark wie der Kampf gegen Stuttgart 21. Eine Einheitsfront hat sich deshalb noch längst nicht gebildet. Aber in Stuttgart findet zumindest ein Austausch statt.

Wolfgang Kippel ist ein Beispiel für diese Annäherung. Er sei weder ein IG Metaller noch sonst wie gewerkschaftlich organisiert, sagt er. Trotzdem findet er sich an diesem Samstag mit einem grünen Bahnhofs-Button an der Jacke in der roten Gewerkschaftsmenge wieder. „Das ist vor allem eine Frage der Solidarität“, sagt er. Die IG Metall Baden-Württemberg habe sich schließlich auch gegen Stuttgart 21 positioniert. Deshalb sei er jetzt zu ihrer Demo gekommen. „Die Proteste gegen Stuttgart 21 ermutigen einen, sich auch anderweitig gesellschaftlich zu engagieren“, sagt Kippel.

Gerhard Pfeifer vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 spricht von einer ausgeprägten „Lust am Demonstrieren und Einmischen“. So wird es in Stuttgart möglich, dass auch ein Bahnhofskämpfer jubeln kann, wenn ein Gewerkschafter gegen die Politik der schwarz-gelben Regierung wettert.

NADINE MICHEL