Memoiren eines Standfesten


Ich hatte immer Recht – das ist die schlichte Botschaft von Schröders Buch Politikermemoiren sind meist höchst langweilig. Gekauft werden sie trotzdem

VON FRANZ WALTER

„Als Kunstwerk oder Genussmittel stehen diese ‚Erinnerungen‘ nicht zur Diskussion.“ Das schrieb vor ziemlich exakt 41 Jahren Golo Mann in der Zeit, als er das Memoirenwerk eines früheren Kanzlers, Konrad Adenauer, besprach. Und so hat man es natürlich auch mit dem Rückblick von Gerhard Schröder zu halten. Ein guter Kanzler muss über den wachen Instinkt für politische Gefahren und gesellschaftliche Möglichkeiten verfügen. Er sollte in Krisensituationen gute Nerven besitzen. Und dergleichen mehr. Ein glänzender Essayist und sprachsensibler Literat braucht er nicht zu sein.

Die meisten Kanzler im modernen Deutschland – Bismarck bildete eine Ausnahme, ein wenig ebenfalls Willy Brandt – schufen mit ihren Erinnerungen in der Tat auch keine große Literatur. Im Gegenteil, in aller Regel sind die Memoiren prominenter Politiker langweilig, hölzern geschrieben, oft pedantisch und dies vor allem: unerträglich rechthaberisch. Gleichwohl pflegen Kanzlermemoiren in aller Regel Bestseller zu werden. Auch das fing mit Bismarck und seinen „Gedanken und Erinnerungen“ an. Das galt aber ebenfalls für Adenauer, für Brandt, Schmidt und Kohl, wobei zumindest die Bücher der CDU-Regierungschefs ziemlich unlesbar sind und daher auch in den Bibliotheken des deutschen Bürgertums überwiegend ungelesen und zugestaubt im Regal stehen.

Vermutlich dürfte das trotz des strategisch entfachten Medienfiebers dieser Tage auch für den Band des Kanzlers der rot-grünen Koalition zutreffen. Erbauungslektüre für die Mußestunden beim abendlichen Bordeaux zur klassischen Musik bekommen wir jedenfalls nicht geboten. Dafür sind die Ausführungen einfach zu schlicht. Man spürt in einigen Kapiteln Satz für Satz, dass da jemand mündlich berichtet hat, was hernach mühselig in halbwegs lesbare Schriftform transferiert werden musste. Manche Sätze sind extrem knapp, andere überladen, einige Metaphern verunglückt. Das meiste ist alles andere als neu oder gar aufregend, erst recht nicht enthüllend. Die Porträts sind überwiegend farblos. Man stolpert nicht selten über im Grunde ganz unschröderianische Allgemeinplätze der Sorte: „Eine humane und demokratische und damit globalistische Gesellschaft braucht Menschen, die sich engagieren.“

Ein wenig überrascht war man indes über die Passagen zum alten Freund und Gegner Lafontaine, der oft ganz wie in den guten alten Zeiten, als noch „kein Stück Papier“ zwischen die beiden Kraftnaturen der SPD passte, kurz und genossenschaftlich als „Oskar“ firmiert. Hier sind dem früheren Kanzler einige bemerkenswert differenzierte und sensible Deutungen – „wie viel Überwindung ist vonnöten, sich [nach dem Attentat] erneut in größere Menschenmengen zu begeben?“ – gelungen.

Natürlich, das Grundübel aller Politikererinnerungen rührt aus dem inneren Rechtfertigungszwang ihrer Verfasser. Fast alles war richtig, was sie getan oder gelassen haben. Alle Handlungen bekommen Sinn, Ziel, Zweck und Stringenz. Wer immer andere Auffassungen vertrat, war entweder ein hinterhältiger Bösewicht oder ein ahnungsloser Dummkopf. Selbst die größten Kanzler gebrauchten memorierend dieses einfache Schema. Und Schröder verwendet es, ohne maßlos zu werden, ebenfalls.

Insofern liefert dieses Genre in aller Regel kein allzu großen Erkenntnisgewinn. Politiker dieser Fasson, die über Jahre sich täglich heftigen medialen Angriffen ausgesetzt sahen, sich von Intriganten und politischen Nebenbuhlern chronisch umstellt und daher bedroht fühlten, zuweilen blutige Dinge exekutieren mussten, neigen nach Ablauf dieser bitterharten, einsamen Jahre nicht zu ausgewogenen und grüblerischen Reflexionen des eigenen Tuns. Sie sind – zugegebenermaßen: nicht unverständlich – allein apodiktische Apologeten ihrer selbst, präziser: der politischen Taten oder eben auch „Entscheidungen“ während der Zeit ihrer Kanzlerschaft.

Ein bisschen schade ist das schon. Denn gerade große Politiker zeichnen sich nicht nur durch den einen, alles verbindenden roten biografischen Faden aus, ihr Lebensweg war meist keineswegs geradlinig und konzise; große Politiker haben gewissermaßen mehrere politische Leben gelebt, haben oft Positionen jäh gewechselt, schauen infolgedessen später auf lebensgeschichtliche Brüche und überraschende Zäsuren zurück. Aber im Herbst ihres Lebens fehlt ihnen offenkundig die psychische Kraft, darüber zu reflektieren. So ist das auch bei Schröder.

Der normative Fluchtpunkt, den er in seinen „Entscheidungen“ wieder und wieder im wilhelminischen Duktus setzt, heißt: „Standfestigkeit“. Nun mag man so etwas wie Standfestigkeit beim Politiker Schröder vielleicht seit 2003 erkennen, da er den Kurs der Agenda-Politik nicht mehr verließ.

Aber im politischen Leben zuvor ging es denkbar munter und bunt zu. Standfest war es nicht. Im Gegenteil, Schröder kam nach oben, weil er frech rochierte, nonchalant die Seiten wechselte, sich über ordnungspolitische Verlässlichkeiten gleichgültig hinwegsetzte. Schröder machte 20 Jahre lang das, was er in seinen Erinnerungen den Gegnern aus der eigenen Partei nun ein wenig philiströs vorwirft: Er verschaffte sich die mediale Aufmerksamkeit, indem er sich über seinen jeweiligen Parteivorsitzenden mokierte, Beschlüsse ignorierte, der eigenen Partei in schöner Regelmäßigkeit – um im derben Jargon des Exkanzlers zu bleiben – „ins Kreuz trat“.

Schröder verzehrte in den Jahren seines Aufstiegs die innersozialdemokratische Loyalität, die er als Basta-Kanzler uneingeschränkt für sich beanspruchte. Doch darf man dem Lamento Schröders auch nicht zu sehr auf den Leim gehen. In der Geschichte sozialdemokratischer Kanzlerschaften hatte zuvor kein Regierungschef aus den Reihen der SPD derart wenig innerparteiliche Opposition auszuhalten wie Schröder. Philipp Scheidemann, Gustav Bauer, Hermann Müller, Willy Brandt und Helmut Schmidt hatten es da weitaus schwerer, sich gegen mächtige, selbstbewusste, lange auch durchaus kreative regierungsfeindliche Linksoppositionen im eigenen Laden durchzusetzen.

Schröder klagt zwar gern im verblüffend altkonservativen Stil des verbitterten Patriarchen über die Machenschaften „lautstarker“ und „relevanter Teile der SPD-Linken“, die angeblich den „offenen Aufstand gegen den Parteivorsitzenden“ planten und so dazu beitrugen, „dass eine neue Linkspartei entstehen konnte“.

Nur: Wo, um Bebels willen, gibt es denn noch eine „relevante“, gar lebendige, konzeptionell kraftvolle SPD-Linke? Hatte Schröder wirklich Furcht vor dem bekannten jungen Himmelsstürmer Ottmar Schreiner, dem populären charismatischen Tribun Florian Pronold, dem brillanten Theoretiker Detlev von Larcher? Da waren die Mühen des Hermann Müller mit Paul Levi, von Willy Brandt mit Jochen Steffen und Helmut Schmidt mit, ja, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine doch ein wenig gravierender. Wenn Schröder tatsächlich aus Bangigkeit vor dem harmlos-kümmerlichen Linksflügelchen der SPD des Jahres 2005 die Kanzlerschaft hingeworfen hat, dann sollte er es künftig füglich unterlassen, seiner Nachfolgerin im Amt einen Mangel an Führungskraft vorzuwerfen.

Mit ihren Brüchen tun sich die „Standfesten“ der Agenda-2010-Politik erkennbar schwer. Sie haben diese Brüche nie erklärt und scheinen auch keineswegs willens zu sein, dies jemals nachzuholen. Dabei würde man von den Schröders & Münteferings und all den anderen schon einmal gerne erläutert bekommen, warum sie bis 1997/98– also ein beachtliches politisches Leben lang – für das Gegenteil von dem gekämpft haben, was sie dann seit 2002/03 unter dem Imperativ der Alternativlosigkeit der Republik herrisch verordneten. Was bedeuten die politischen Maximen zuvor? War das nur Geplänkel, Spielerei, Nonsens, alberne Provokation? Denn das, was seit 2003 von den „Standfesten“ als unabwendbarer Druck der Realität erklärt wurde – Alterung der Gesellschaft, Globalisierung, Verschuldung des Staates, Finanzprobleme in den Sozialsystemen, Wachstumsbarrieren durch Bürokratien, Unterforderung der „Unterschichten“, Verkrustung des Arbeitsmarktes –, dürfte doch die Wirklichkeit auch schon 1997 oder 1991, selbst 1981 gewesen sein. Aber warum sahen die standfesten Realisten Schröder und Müntefering die „Wirklichkeit“ damals noch nicht? Sie waren schließlich erfahrene Politiker. Und doch zogen sie in zahlreiche Wahlkämpfe gegen die „soziale Kahlschlagspolitik“ des Norbert Blüm, dessen sozialkatholisches Gewissen sich der späteren Agenda-Technokratie nie gebeugt hätte.

Dieser Bruch mag erklärbar sein. Aber erklärt haben ihn die „Standfesten“ dennoch nicht. Denn gute Interpreten waren sie nie. Man findet in diesem Kreis auch keine einzige originäre Idee. Die „Standfesten“ der Ära Schröder waren immer nur Schwämme für dominant zirkulierende Erklärungsmuster. Und so trugen sie durch ihre, selbst Unternehmer verblüffende, Steuerverschenkungspolitik zur Verwahrlosung der öffentlichen Güter und zur Handlungslähmung des Staates gerade in Wachstumsbereichen bei. Ebendas hat einige hunderttausend Mitglieder und etliche Millionen Wähler der SPD verwirrt, deprimiert, abgestoßen, in Teilen schließlich der Linkspartei zugetrieben.

Schröder möchte die Verantwortung dafür gerne den Herren Bsirske und Peters, den Mephistogestalten – die „systematisch auf meinem Sturz hinarbeiteten“ – in den Erinnerungen des früheren Kanzlers, zuschieben. Doch es war die eigene Erklärungslosigkeit, die zum Verschleiß der Sozialdemokratie führte und die ihn schließlich aus dem Amt katapultierte.

Schon 1892 klagte der Geheimrat Lothar Bucher, der Bismarck bei der Niederschrift seiner Erinnerungen assistierte, über den zunehmend rechthaberischen „Alten vom Sachsenwald“: „Bei nichts, was misslungen ist, will er beteiligt gewesen sein und niemand lässt er neben sich gelten als etwa den alten Kaiser.“ So schlimm ist es bei Schröder längst nicht. Aber ein bisschen bismarckianisch geht es bei ihm schon auch zu. Doch wird das Schröder gewiss nicht als Vorwurf empfinden.

Gerhard Schröder: „Entscheidungen. Mein Leben in der Politik“. Hoffmann und Campe, 544 Seiten, 25 Euro