Hirn für Säuglinge

Walfang auf Island. Ein toter Finnwal wird ausgeschlachtet. Die Wahrheit-Reportage

Walfang auf Island, das ist Volksfest, ein Stück lebendiger Tradition und vor allem eine riesige Sauerei. Knietief steht das Blut des wehrlosen Meeressäugers in der Fußgängerzone der Hauptstadt und tout Reykjavík ist auf den Beinen. Bewaffnet mit Messern, Äxten und Gartenhäckslern fuhrwerkt die ausgelassene Menge an dem Kadaver herum, während eine Kapelle dazu volkstümlichen Freejazz auf Schafsknochenflöten pustet, eine urtümliche Musikform, die von der Grande Dame des isländischen Kieksgesangs, Björk Gutmundsdottir, auch international in Verruf gebracht worden ist.

Traditionell werden Finnwale in Island zu „hvalurpastøt“ verarbeitet, einer dunkelgrauen, übel riechenden Paste, die als Naschwerk gereicht oder zum Heizen benutzt wird, außerdem wirkt sie empfängnisverhütend und die Tür quietscht nicht mehr so.

Zwei junge Burschen geraten über den ansehnlichen Walpenis in Streit. Getrocknet und zerrieben gilt er als Potenzmittel, am Stück dagegen als ideales Geschenk zum Muttertag. Die beiden nordischen Raubeine tragen ihren Disput nach Landessitte mit der Streitaxt aus, und schnell ist der Frieden wieder hergestellt in Europas nördlichstem Inselstaat. „Island ist ein modernes und weltoffenes Land an der Schwelle zum 16. Jahrhundert“, erklärt uns Snorre Ahabson und stampft energisch mit seinem Holzbein auf. Ahabson gilt als entschlossenster Verfechter des isländischen Walfangs, seit er sein rechtes Bein bei dem Versuch eingebüßt hat, einem Orca Tischmanieren beizubringen. „Wale sind doch Ungeziefer“, spuckt er verächtlich aus. „Sie übertragen Seekrankheit und sind viel zu dick. Außerdem halten sie sich für verdammt schlau, die arroganten Biester.“

Neben uns füttert eine junge Mutter ihr Kind mit der glibbrigen und fettigen Hirnmasse des majestätischen Tieres. Nach Erkenntnissen isländischer Forscher soll Kraft und Klugheit der intelligenten Meeressäuger auf den Esser überspringen. Doch Ahabson runzelt missbilligend die wettergegerbte Stirn. „Die Kinder lernen dabei doch nur Unsinn“, brummt er. „Sie verständigen sich bald nur noch mit Pfeif- und Klicklauten und verlernen die Sprache ihrer Väter.“ Wenn es um die Reinheit isländischer Kultur geht, ist mit dem alten Haudegen nicht zu spaßen. „Der Walfang ist eine tragende Säule isländischer Kultur“, doziert Ahabson. „Die beiden anderen sind übrigens Haifischvergraben und Kieksgesang.“

Es formiert sich allerdings auch Kritik am Walfang, das gibt selbst Ahabson zu, sogar auf Island hat die Moderne Einzug gehalten. Bewog einst nur internationaler Druck die Regierung, das Harpunieren von Mink- und Finnwalen sowie das Keulen von Greenpeace-Mitarbeitern mit empfindlichen Geldstrafen zu belegen, regt sich neuerdings auch innerhalb der isländischen Gesellschaft Widerspruch. „Aber das sind alles Nihilisten und Spinner!“, ereifert sich Ahabson über die wenigen einheimischen Walschützer „Die glauben ja nicht einmal an Elfen.“

Doch es gibt auch andere, nachdenklichere Stimmen als die des einbeinigen Veteranen. „Natürlich tun uns die Viecher leid“, bekennt etwa ein hochrangiger Mitarbeiter des Tourismusministeriums, der lieber ungenannt bleiben will.

„Aber jedes Volk braucht halt ein Alleinstellungsmerkmal, damit man es nicht verwechselt. Die Russen saufen, die Deutschen sind humorlos, und wir sind halt die mit den Walen.“

CHRISTIAN BARTEL