„Man muss Kim hängen“

„Krieg muss sein“, sagtHan, „und wenn mit Kim das ganze Land verschwindet“Es gab Geschirr und Besteck in Nordkorea, aber nichts zu essen. Sie kochten jeden Tag Grassuppe

VON GEORG BLUME

Han Chul Un* hat ihre Haare schwarz gefärbt. Die Nordkoreanerin trägt eine braune Herrenjacke über einem rosafarbenen T-Shirt, außerdem dunkelblaue Hosen, sie sind frisch gebügelt. Es sind Spenden von Christen, die zur in China lebenden koreanischen Minderheit gehören. Han hat bei ihnen nach mehreren Fluchtversuchen aus Nordkorea ein neues Zuhause gefunden.

Han ist heute 69 Jahre alt, früher arbeitete sie auf der anderen Seite der nahen Grenze in einer Antibiotikafabrik. Seit zwei Jahren lebt sie nun in einem kleinen chinesischen Holzfällerstädtchen, etwa eine Autostunde von dem chinesisch-nordkoreanischen Grenzort Tumen entfernt. Tagsüber arbeitet Han jetzt auf den Feldern. Dafür bekommt sie Unterkunft und Verpflegung von einer Bauernfamilie, die zur koreanischen Minderheit gehört und wie sie Koreanisch spricht, mehr nicht. Heute gehe es ihr gut, sagt Han. Doch sie schaut, als sei das genaue Gegenteil der Fall. Nur selten blickt sie auf beim Sprechen, wenn doch, fixieren ihre Augen das Gegenüber – sie vermeidet jede persönliche Annäherung. Unvermutet platzt es aus ihr heraus: „Krieg muss sein, egal ob Atomkrieg oder nicht, und wenn mit ihm das ganze Land verschwindet. Kim Jong Il muss getötet werden.“ Die Landarbeiterin versteht nicht, warum Amerika und der Westen zögern, gegen den nordkoreanischen Diktator loszuschlagen.

Es ist ein Abend kurz nach dem ersten nordkoreanischen Atomtest. Han sitzt zusammen mit einer anderen Flüchtlingsfrau in einem Restaurant des Holzfällerstädtchens und brät Lammfleisch. Sie isst wenig und sagt den ganzen Abend kaum ein Wort.

Am nächsten Tag hat ihre Gastfamilie sie und andere Flüchtlinge nach Hause eingeladen. Stundenlang erzählen die Flüchtlinge von ihrer Heimat, über den nordkoreanischen Atomtest, über die durchlittenen Hungersnöte und darüber, wie es ist, in einer Diktatur zu leben. Schließlich beginnt auch Han zu reden. Sie hatte es besonders schwer. Erst verhungerte ihr Mann, dann ihr 25-jähriger Sohn, schließlich ihre 27-jährige Tochter. Sie wohnten in der Stadt, in einem alten Haus aus Lehm mit drei Zimmern. Es war ihr Elternhaus, noch heute lebt ihre Schwester dort.

Han weiß jetzt, dass Männer schneller als Frauen verhungern. Sie weiß, wie man die Leiche des eigenen Sohnes in ein Tuch einwickelt, mit den Händen ein Loch gräbt und die Leiche darin verscharrt. Han hebt die Hände und vollführt die Scharrbewegung von damals. Sie sagt, es sei ein steiniger Acker gewesen, in dem sie ihren Sohn begraben habe. Damit hat sie das Schlimmste erzählt. Nun wirkt sie erleichtert, sie legt ihre Hemmungen ab.

Nachdem ihre Kinder verhungert waren, erzählt sie weiter, blieben sie und ihre Schwester zurück. Sie hatten einen roten Kleiderschrank und einen Schwarzweißfernseher. Es gab Geschirr und Besteck, aber nichts zu essen. Sie kochten täglich Grassuppe – aus Gras, das sie tagsüber auf den Hügeln außerhalb der Stadt sammelten. „Meine Schwester in Nordkorea kocht bis heute nichts anderes“, sagt Han.

Genauso schlimm wie der ständige Hunger war die Angst. Alle fürchteten sich vor dem Regime in Pjöngjang. „Die Kontrolle untereinander ist sehr stark“, betont Han. Womöglich möchte sie damit sagen, dass sie in ihrer Heimat mit keinem Menschen offen reden konnte. Dass sie viele Jahre zum Schweigen verurteilt war. Dass sie auch wegen dieser Erfahrung am Abend zuvor nichts zu sagen wagte.

„Wenn jemand als politischer Gefangener verhaftet wird, müssen alle in der Familie sterben“, sagt Han – es klingt immer noch wie eine Ermahnung an sich selbst, ja aufzupassen und nicht zu viel zu sagen. Doch es ist nicht mehr so gemeint. Es ist wohl nur ein Satz, wie Han ihn früher in Nordkorea gesagt hätte. Jetzt fühlt sie sich frei genug, ein kleines bisschen ihrer Wut herauszulassen. Sie richtet sich auf und tut, als wickle sie einen Strick um ihren Hals. „Man muss Kim aufhängen“, empört sie sich, „er sagt immer, die Amerikaner seien an allem Schuld. Aber die Nordkoreaner wissen ganz genau, dass die Schuld nur bei ihm liegt“, erklärt Han. Ein kurzes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Offenbar hat sie eine derart kühne Behauptung, die sie und ihre Familie früher das Leben hätte kosten können, auch in China noch nicht häufig aufgestellt.

Die anderen Flüchtlinge hier im chinesischen Bauernhaus pflichten Han bei. „Alle wissen, dass wir hungern müssen, damit die Atombombe bezahlt werden kann“, sagt die 34-jährige Yin Gyung Suck. Vor ihrer Flucht hat sie in einer Fabrik bakterielle Waffen hergestellt. Militärexperten sind sich einig, dass Nordkorea über ein riesiges B-Waffen-Lager verfügt. Yin beschreibt bis ins Detail die von ihr produzierten Verpackungen für Nervengift. „Nach der Arbeit“, erzählt sie, „fühlte man sich total schwach.“ Mit ihrem wippenden Pferdeschwanz und dem bunten Trainingsanzug wirkt Yin sehr optimistisch. Doch sie sieht die Zukunft genauso düster wie Han. „Ich hoffe, dass bald ein Krieg kommt“, sagt die junge Frau. „Wir müssen sowieso sterben, egal ob durch Hunger oder die Atombombe.“

Der Atomtest vom 9. Oktober hat die Flüchtlinge in große Aufregung versetzt. Sie sprechen sehr direkt von der Gefahr eines Atomkrieges – als stünde er unmittelbar bevor. Sie erinnern daran, dass Kim Jong Il immer offen gesagt habe, Nordkorea habe die Atombombe, und wenn es einen Krieg verliere, werde er die ganze Welt vernichten. Kim hat nun gezeigt, dass er die Bombe hat. Den Flüchtlingen ist nun, als würde sie Kims Versprechen sogar hier in China einholen. Sie alle haben Angehörige durch die Hungersnöte der letzten Jahre verloren. Sie haben den politischen Terror erlebt, die ständige Angst vor Kim. Sie zweifeln keine Sekunde daran, dass Kim die Atombombe einsetzen wird. Bei ihm hat sich aus ihrer Sicht immer nur das Schlimmste bewahrheitet.

„Nordkorea ist für Außenstehende nicht vorstellbar“, erklärt der ehemalige nordkoreanische Ingenieur Zhang Wan Sun die radikalen Ansichten der Flüchtlinge.

Er ist 67 Jahre alt, ein Intellektueller, der ebenso wie Han bei der christlichen Gastfamilie lebt. Zhang hört gelegentlich im Radio Voice of America, er schildert seine Heimat als Land, in dem es „in jedem Dorf Fälle von Kannibalismus“ gegeben habe. Er erzählt von Eltern, die ihre Kinder nicht satt kriegen und sie stattdessen auf die Straße schicken in dem Wissen, dass sie dort verhungern werden. Er sagt, an jedem Tisch in Nordkorea, an dem drei Menschen sitzen, sitze auch ein Spion – weil die Belohnungen für Denunzianten in einem Land der Hungernden zu verlockend seien.

Diplomatie, Abschreckung, Entspannungspolitik – das sind für Zhang keine Kategorien. Er kann sich nicht vorstellen, dass sich mit Kim verhandeln ließe. Für ihn ist der „Kleine Führer“ ein Mörder, der jeden Tag von neuem mordet und vor dem er sich selbst heute noch nicht sicher fühlt.

Tatsächlich leben die Flüchtlinge noch immer in der ständigen Gefahr, von den chinesischen Behörden entdeckt und wieder nach Nordkorea abgeschoben zu werden. Trotz aller chinesischen Proteste gegen den nordkoreanischen Atomtest, trotz der von Peking getragenen UN-Sanktionen gegen das Nachbarland gilt immer noch ein bilaterales Abkommen, das die Rückführung aller nordkoreanischen Flüchtlinge aus China vorsieht.

Peking wird seine Haltung in diesem Punkt auch kaum ändern. Für chinesische Diplomaten bleibt es unvorstellbar, dass UN-Organisationen in China Zelte aufschlagen, um Flüchtlinge aus Nordkorea zu empfangen und sie später nach Südkorea zu schicken. Stattdessen erwarten die Flüchtlinge, die von den Chinesen aufgegriffen werden, nach der Rückkehr Verhöre, Folter und Gefängnisstrafen.

Han Chul Un kann davon aus eigener Erfahrung berichten. Sechs Monate musste sie nach ihrer ersten Flucht in Haft verbringen, sechs Mitinsassen starben in dieser Zeit. Jüngere Häftlingsfrauen wurden jeden Tag geprügelt. Deshalb warnen südkoreanische Flüchtlingsorganisationen, die in China im Untergrund arbeiten, die Flüchtlinge davor, mit ausländischen Journalisten zu reden, um nicht die Aufmerksamkeit der chinesischen Behörden auf sich zu ziehen.

Han, Yin und Zhang aber wollen von solcher Vorsicht nichts wissen. „Die Welt muss die Nordkoreaner von ihrem Leid befreien, jetzt erst recht“, sagt Zhang. Dabei geht es ihm vor allem um seine vier Töchter. Sie leben immer noch in Nordkorea. Sie schreiben ihm regelmäßig Briefe an fingierte Verwandte in China, in denen sie, in sozialistische Floskeln verpackt, von Hunger und Elend berichten. Kürzlich ist seine älteste Tochter bis an die Grenze zu China gekommen und hat mit ihm auf einem geliehenen chinesischen Handy telefoniert. Dabei hat sie ihm erzählt, dass ihre Familie weiter hungert, Grassuppe und Baumrinde kocht.

In seiner Jugend erging es Zhang fast genauso schlecht. Bis zu seinem 20. Lebensjahr lebte er mit chinesischem Pass unter der koreanischen Minderheit in der Volksrepublik. Er musste damals die Zeit des „Großen Sprung nach vorn“ miterleben, in der Mao Tse-tung die chinesischen Bauern zwang, ihre Felder aufzugeben, um Schaufeln und Hacken für die Stahlproduktion einzuschmelzen. Das Ergebnis war eine der größten Hungersnöte des 20. Jahrhunderts. Vor ihr flüchtete Zhang 1962 nach Nordkorea, wo er dann seine Familie gründete. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er eines Tages Schlimmeres als unter Mao erleben würde. Das ist heute aus seiner Sicht längst geschehen. „Helft einander!“, hat er zu seiner Tochter im Juni am Telefon gesagt.

(*) Die Namen der Flüchtlinge sind von der Redaktion geändert