Festliche Regeln brechen

WEIHNACHTSESSEN Wer seine Freunde oder die Familie zu den Feiertagen mit einem Festmahl verwöhnen will, sollte einen Blick über den kulinarischen Tellerrand wagen. Es lohnt sich

Tradition hin oder her, wer sagt denn, dass man sich an alle Regeln halten muss?

VON LISA SHOEMAKER

Seien wir ehrlich: Alle Jahre wieder hängt uns Gänsebraten, Karpfen und Würstchen mit Kartoffelsalat zu Weihnachten zum Halse heraus. Wer aber dennoch nicht ganz auf Tradition verzichten will, um seine Liebsten mit einem Festmahl zu beschenken, lüpfe den Topfdeckel der anderen, um sich gewissermaßen als kosmopolitischer Traditionalist inspirieren zu lassen.

Der Weihnachtstrend geht herkömmlicherweise zum globalen Vogel: zur Pute. Jeffrey Steingarten, kulinarischer Kolumnist und Allesfresser, findet sie allerdings fade. Nicht ganz zu Unrecht, aber gerade das ist auch ihre Stärke: Sie passt sich allem an und ist imstande, auch größere Tafelrunden zu befriedigen, während schmackhaftere Geflügel wie die Gans oder Ente höchstens eine Kleinfamilie sättigen.

Schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der amerikanische Truthahn allerorten verspeist, wobei Verwirrung hinsichtlich seiner Herkunft bestand. So heißt er im angelsächsischen Sprachraum bis heute „Turkey“, die Franzosen nannten ihn „coq d’Inde“ und auch in Deutschland war er zunächst als calcutisches Huhn bekannt.

Die Engländer, die zunächst auf gepökelte, wohl ursprünglich heidnische, Wildschweinköpfe setzten, dann Gänse servierten, sind auch auf die Pute gekommen. Belgier haben ihre traditionellen Hasen und Kaninchen zur ihren Gunsten ebenfalls aufgegeben. Gefüllt mit Hack, Reis, Rosinen und Pinienkernen lieben sie die Griechen, traditionell amerikanisch wird sie mit Kastanien oder Austernfarce gestopft, in Italien greift man zur Verfeinerung zu Rosmarin, Knoblauch und Zitrone.

Auch im Süden Indiens, im Bundesstaat Kerala, wo ein Viertel der Bevölkerung christlich ist, geht es dem Federvieh an den Kragen, hier jedoch den Enten. Mit Zwiebeln, Tomaten, Ingwer, Knoblauch und Koriander wird ein köstliches Curry zubereitet.

Asiatisches steht zunehmend auch Down Under auf dem Speiseplan. Nachdem die Australier jahrzehntelang ein schweres angelsächsisches Christmas Dinner mitten im Hochsommer zu sich nahmen, denken sie langsam um. Zwar ist hier ein mitternächtliches Picknick mit kaltem Putenfleisch und Cranberry-Sauce noch verbreitet. Doch haben sie auch den Fisch entdeckt, mit Kokosmilch und asiatischem Gemüse. Der Fischmarkt in Sydney hat vor Heiligabend 36 Stunden durchgehend geöffnet. Und selbst um drei Uhr morgens herrscht dort in den umliegenden Straßen Dauerstau.

Fisch war einmal die Hauptzutat für Mahlzeiten, die man vor oder nach der Mitternachtsmesse zu sich nahm, da in der katholischen Kirche der Heiligabend als Fastentag gilt.

In Tschechien gibt es daher frittierten Karpfen mit Kartoffelsalat. Da Karpfen lebend verkauft werden, sollte man beim Einkaufen die lieben Kleinen zu Hause lassen. Meine Tochter verweigerte monatelang Fisch, nachdem sie mit ansehen musste, wie ein Karpfen in die ewigen Angelgründe befördert wurde. Eine Variation des Themas ist die kroatische Tradition, Stockfisch mit Kartoffeln zu servieren. Der Vorteil: Der Stockfisch ist garantiert schon lange tot.

„Baccalà“ kommt auch in Apulien auf den Tisch. Nach tagelangem Wässern wird der Stockfisch hier gekocht. Die Brühe dient dann als Grundlage für eine suppige Tomatensauce, in der „lingua d’ucelli“ schwimmen, Pasta in der Größe von Reiskörnern. Den eigentlichen Fisch gibt’s als Secondo, zum zweiten Gang.

Nur wenige Länder bevorzugen Fleisch. Im Norden schwören die Schweden auf Schinkenbraten. Und in Äthiopien, so man sich das leisten kann, wird Lamm gegessen, allerdings feiert die Orthodoxe Kirche erst am 7. Januar Weihnachten. Das Fleisch wird in Butterschmalz mit grünen Chilis, Zwiebeln und Rosmarin gebraten und mit einer milden gelben und einer scharfen roten Sauce serviert und, um die Schärfe auszugleichen, gibt es einen cremigen, milden Käse dazu. Gegessen wird mit den Händen, indem man die Speisen mit Hirsefladen aufnimmt.

Vegetarier sollten sich an der Provence orientieren. Beim „Gros Souper“ an Heiligabend ist Fleisch tabu. Aufgetischt werden Karden und Sellerie, Blumenkohl, Spinat, Omelett und Knoblauchsuppe. Sieben Speisen sollten es sein, auch Fisch ist gestattet. Eine weitere vegetarische Alternative sind die „tortelli verdi“ aus der Emiglia Romagna. Das sind Teigtaschen, die mit Spinat oder Mangold, Ricotta, Parmesan gefüllt sind.

Zum Nachtisch geht es wieder in die Provence. Dort kommen Naschkatzen voll auf ihre Kosten, stehen doch 13 Nachspeisen auf dem Menü, je eine für jeden Apostel plus eine für Jesus. Traditionell handelt es sich dabei zwar hauptsächlich um Trockenfrüchte, Nüsse, Nougat und um mit Olivenöl gebackene Brioches, doch wer sagt denn, Tradition hin, Tradition her, dass man sich an alle Regeln halten muss?