KUNST

schaut sich in den Galerien von Berlin um

NOEMI MOLITOR

Chromästhetiker_in müsste man sein! Also die Fähigkeit besitzen, Töne als Farben wahrzunehmen. Die Neurowissenschaft sagt, das Phänomen wird über Generationen vererbt, vor allem unter Frauen. Ich glaube ja, wir werden als Synästhetiker geboren, und die meisten verlernen mit der Zeit die Fähigkeit der simultanen Sinnesaktivierung. Die Tunnelwahrnehmung als Verschwörung der rationalisierten, kapitalistischen Leistungsgesellschaft: schau nicht nach rechts und links, miss alles daran, ob es effektiv, zweckmäßig und verwertbar ist. Spüre so wenig, so vorhersehbar wie möglich, und wenn du fühlst, definiere sofort, was dich wie und warum bewegt, gib ihm einen Namen, in die Kiste damit, einsortiert! Kunst widersetzt sich dieser kapitalistischen Verwertungslogik. Weder ihre Kreation noch ihre Wahrnehmung lassen sich eintakten oder durch sauber getrennte Sinneskanäle schleusen. KünstlerInnen arbeiten nicht nach Stundenplan, sie brauchen Phasen der ungerichteten Wahrnehmung, des Nichtstuns, des Experimentierens. Dann kommen sie auf geniale Ideen wie der Dadaist Hans Richter, der sich überlegte, dass man Papier wie ein Musikinstrument benutzen könnte und dass geometrischen Formen eigene Melodien innewohnen. Er übersetzte auf horizontalen und vertikalen Rollen Balken, Farbfelder und Diagonalen in Töne. Aus diesen sequentiellen Formen, dieser hörbar und sichtbar gemachten Chromästhesie, entstand dann noch eben in Zusammenarbeit mit Viking Eggeling der abstrakte Film (noch bis 30. Juni im Martin-Gropius-Bau, Mi.–Mo., 10–19, Niederkirchnerstr. 7). Kunst setzt also Dinge frei, die als undenkbar, unfühlbar und unwahrnehmbar galten. Doch plötzlich sind sie nicht mehr wegzudenken und tauchen Jahrzehnte später woanders wieder auf. Im Künstlerhaus Bethanien zum Beispiel. Da hat Alona Rodah für ihre Arbeit „Safe and Sound“ ein geometrisches Raster aus fluoreszierender Farbe auf dem Boden angelegt. Zu elektronischen Rhythmen geht – klick – das Licht aus, eine Tanzfläche erscheint. Auf den dunklen Freiflächen zwischen den Leuchtstreifen hüpfend werden BesucherInnen zu PerformerInnen. Dann wird es wieder hell im Raum und – klack – fühlt man sich ertappt, als ginge mitten auf einer wilden Party das Licht an. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, heimliche und exponierte Bewegung folgen ihrem eigenen Rhythmus und werden durch ihre Simultanität überdeutlich wahrnehmbar. Auch diese audiovisuelle Spielfläche hat ihre eigene Zeitlichkeit und Farbe – sie leuchtet uns im Nachklang den Weg zur multiplen Sinneswahrnehmung (bis 12. Mai, Di.–So., 14–19 Uhr, Kottbusser Str. 10).