Vernetzte Sehnsüchte

WIDERSTAND Auch kleine Gesten können Großes leisten, meint der Politologe John Holloway

Wie ein Dolmetscher switcht Holloway zwischen sozialer Bewegung und Theorie

VON FELIX KLOPOTEK

John Holloways „Kapitalismus aufbrechen“ zu lesen ist Himmel und Hölle zugleich. Die bisweilen penetrante Dringlichkeit, mit der Holloway höchst disparaten Formen von Widerstand (die sich vielleicht noch nicht mal als Widerstand begreifen) eine gemeinsame Grundlage vermitteln will, geht einher mit einem ungebremsten Optimismus, der überall Brüche in der totalitären Herrschaft des Kapitals zu entdecken meint. Einerseits gibt es derzeit wohl keinen Theoretiker, der so leidenschaftlich versucht, die unterschiedlichsten Widerstandspraktiken in Kapitalismus und Imperialismus in eine universelle Perspektive zu rücken. Andererseits kann sich der unbedarfte Leser da schon mal fragen, ob wir eigentlich schon in revolutionären Zeiten leben.

Was die ambivalente Lektüre noch steigert: „Kapitalismus aufbrechen“ ist kein Buch, das in einen analytischen und einen revolutionstrunkenen Teil auseinanderfiele. Seine Widerstandsphilosophie entfaltet Holloway streng systematisch in acht Teilen und 33 Thesen. Holloway, vor 63 Jahren in Dublin geboren und seit 1993 Lehrer an der mexikanischen Autonomen Universität von Puebla, ist bestens vernetzt: Die globale Debatte über Commons (Gemeineigentum) kennt er so gut wie die Eigenheiten der deutschen Marx-Rezeption, er steht im Dialog mit den aufständischen Zapatistas und sieht sich der klassischen Frankfurter Schule verpflichtet. Holloways berühmtestes Werk, „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ (2002), entstand aus diesem Geflecht und bestach durch die simple These, dass der Kapitalismus nur dadurch existiert, dass die Ausgebeuteten ihn selbst produzieren und organisieren.

Es gibt keinen Masterplan der Geschichte

Der Zwang des Kapitals ist immer ein subjektiver, was uns als fremde Macht gegenübertritt, ist unsere eigene Arbeit, über die wir allerdings – unter dem Regime des Privateigentums – die Kontrolle verloren haben. Diese Sichtweise ermöglicht es Holloway, auch den Widerstand subjektiv – im „Schrei des Subjekts“ – zu fundieren: Wir brauchen keine Partei, keine Gewerkschaft, keine Elite, die die Staatsmacht erobern und dann „proletarisch“ einrichten will. Es gibt keinen Masterplan der Geschichte. Es reicht, wenn wir bei uns selbst anfangen und unsere Sehnsüchte kollektiv vernetzen.

Man muss „Die Welt verändern“ nicht lesen, um „Kapitalismus aufbrechen“ zu verstehen. Zum einen weil Holloway zentrale Gedanken ohnehin ständig wiederholt, zum anderen weil der Kontext ein anderer ist. „Die Welt verändern“ rechnete mit all jenen marxistischen Schulen ab, für die Kommunismus vor allem ein Stadium der Geschichte ist, indem sich die Emanzipation der Menschheit vollendet hat. Holloway sieht es anders herum: Unsere Befreiung beginnt jetzt, Kommunismus ist eine Bewegung und „Kapitalismus aufbrechen“ möchte das Buch dieser Bewegung sein. Wie ein Dolmetscher switcht Holloway zwischen dem Laboratorium der sozialen Bewegungen Lateinamerikas und den theoretischen Kategorien eines kritischen Marxismus hin und her.

Charmieren und beschwören

Heimliche Schaltzentrale ist die Hoffnungsphilosophie Ernst Blochs. Donnern, murmeln, raunen, charmieren und beschwören kann Holloway schon fast so gut wie der Alte. Wie Bloch will Holloway zeigen, dass sich in den einfachsten Gesten der Verweigerung mehr als nur ein „Nein“ verbirgt. Es gibt im menschlichen Handeln einen Überschuss, der über das bestehende Falsche positiv hinausweist, Holloway nennt das „ekstatisch“.

Bloch sprach vom Wärmestrom und Kältestrom des Marxismus: Neben der unnachgiebigen, kühlen Analyse der politischen Ökonomie stünden Momente, die am kleinen Widerstand der Leute anknüpfen und sie ernst nehmen. Gemessen daran ist Holloways Marxismus der denkbar warmherzigste und kumpelhafteste, allerdings soziologisch verarmt. Holloway kaschiert diese Armut durch eine jubilierende Sprache und interessiert sich für einen Marxisten überraschend wenig für reale Klassenverhältnisse.

Schlimmer noch: In seinem Raster einer Widerstandsethik könnte man sogar einen Neonazi aus der Uckermark oder einen Neofaschisten aus Rom eintragen, die ihre Kinder zu einer selbst organisierten Kita bringen, in einem selbst bestimmten Hausprojekt wohnen und nichts mit dem „fremden“ Kapital zu tun haben wollen. Sein Buch durchzieht eine unspezifische Haltung, die die vielen Geschichten aus dem Alltag des Widerstands als abstrakt und unlebendig dastehen lässt. Sicher, Holloway würde nicht einmal im Traum mit reaktionären Bewegungen ein taktisches Bündnis erwägen. Kleinlaut räumt er ein, dass die Brüche im Kapitalismus schnell wieder vereisen können.

John Holloway: „Kapitalismus aufbrechen“. Aus dem Englischen von Marcel Stoetzler. Westfälisches Dampfboot, Münster 2010, 276 S., 24,90 Euro