60 Jahre Niedersachsen: Die Bilanz

Am 1. November 1946 wurde Niedersachsen durch den Zusammenschluss der früheren Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe gegründet. Eine gute Idee? Oder muss man mit der Erfahrung von 60 Jahren Niedersachsen im Rücken zu dem Schluss kommen: Niedersachsen hat ausgedient? Ein Pro und Contra

Pro

Das Bild Niedersachsens als konservatives Ackerland muss korrigiert werden. Niedersachsen ist Subversion pur. Niedersachsen ist die permanente Revolte. Beweise? Bitte schön:

Da ist zum Beispiel die niedersächsische DADA-Architektur, die in der Heimat Kurt Schwitters eigentlich nicht überraschen sollte: Nirgendwo wird so konsequent, seit nunmehr 60 Jahren, an einer Symbiose zwischen bewusster Geschmacklosigkeit und baulichem Kalauer gearbeitet wie in Niedersachsen. Damit sind wir Dauer-Avantgarde in der Überwindung von veralteten bürgerlichen Werten wie Schönheit und Nützlichkeit.

Betrachten wir nur Hannover, die Kapitale der Dialektik von sinnlosem Hochstraßenbau und Fußgängerzonen-Tieferlegung, Peine, die Stadt gewordene Autobahnraststätte oder Hildesheim, das es schaffte, mit Hilfe der alliierten Bomber und deutscher Nachkriegs-Architekten vom „Nürnberg des Nordens“ zum “Eisenhüttenstadt des Westens“ zu mutieren: Eine gnadenlose Fifties-Innenstadt voller Kachelfassaden und „Zierbalkone“!

Danke für die Revolte

Und der Kampf geht weiter: In Braunschweig wird gerade eine klobige, erfreulich sinnlose Shopping Mall gebaut, ein überdimensionierter kommerzieller Führerbunker, der an einer Seite mit einem grotesken Fake-Welfen-Schloss verkleidet wird. Ziel der Aktion ist es, den Einzelhandel in den Ruin zu treiben, ein großes Hohngelächter im Lande hervorzurufen und damit der alten dadaistischen Forderung „FORM OHNE INHALT – INHALT OHNE SINN“ zum Sieg zu verhelfen. Der Plan scheint aufzugehen. Respekt!

Oder werfen wir einen Blick auf den in niedersächsischen Reagenzgläsern hergestellten Politikertypus, der die perfekte Karikatur seines Berufsstandes ist und so dem Wahlvolk zu einer gesunden Skepsis gegenüber der politischen Ordnung verhilft. Abstoßend sind Niedersachsens Politiker in alle Richtungen, ob in der Bundes- oder Landespolitik: macht- und geldgeil wie die alte Wolfsfratze Schröder, verklemmt und ideologisch wie Wulff, specknackig und ungehobelt wie Gabriel, naiv-dreist plappernd wie Philipp Rösler, ungebildet bis auf die Knochen wie Innenminister Schünemann oder nur an Vorteilen für die eigene Schicht interessiert wie von der Leyen – bei einem solchen Gruselpanoptikum dauert es nicht mehr lange bis die Wähler sagen: Och nee, da sind wir nicht mehr bei. Und das wäre ja auch schon mal was.

Auch auf dem Gebiet der Kochkunst wird in Niedersachsen an der Untergrabung der bestehenden Verhältnisse gearbeitet: „Niedersächsisches Essen“ ist ein Synonym für Kulinarik jenseits althergebrachter Genusskategorien. Genuss führt bekanntermaßen direkt in die Dekadenz und Kritiklosigkeit, deswegen vermeidet der Niedersachse jegliches positive Gefühl beim Essen. Außer dem der dumpfen Sättigung. Zu diesem Zwecke wurden kalorienreiche, aber fast ungenießbare Gerichte erfunden wie Grünkohl mit Pinkel (ortsabhängig auch Braunkohl mit Bregenwurst genannt), Röhrkohl, Steckrübeneintopf, Knackwurst oder die in Altenheimen gefürchtete, weil salmonellengesättigte „Welfenspeise“.

Deutschland braucht dich

Auf keinen Fall unerwähnt bleiben darf das „Niedersachsenlied“. Innenminister Schünemann schwärmt: „Es wird oft bei der Bundeswehr gesungen, und ich habe es auch auf einer CD im Auto.“ Und der CDU-Fraktionsvorsitzende David McAllister bekennt: „Das Niedersachsenlied singe ich regelmäßig.“ Textlich bewegt sich der nicht zufällig um 1934 entstandene Hetzmarsch zwischen „An der Nordseeküste“ und dem „Horst-Wessel-Lied“: „Wo fielen die römischen Schergen? Wo versank die welsche Brut? In Niedersachsens Bergen, an Niedersachsens Wut. Wer warf den röm’schen Adler nieder in den Sand? … Heil Herzog Widukinds Stamm“. Oder: “Aus der Väter Blut und Wunden wächst der Söhne Heldenmut!“ Was will man mehr? Durch die Weiterverbreitung dieses hirn- und trostlosen Liedes wird die Lächerlichkeit des Hymnensingens an sich sehr schön und konturiert herausgearbeitet.

Im Gegensatz zum Deutschlandlied gibt es beim Niedersachsenlied keinen Interpretationsspielraum. Dieses Lied ist martialischer Dreck und wer es dennoch singt, braucht noch nicht mal ansatzweise ernst genommen werden.

Danke, liebes Niedersachen, für diese heute oft zu vermissende Klarheit. Und weiter so. Nochmal 60 Jahre. Deutschland braucht dich.

Hartmut El Kurdi

Contra

Reden wir über das Unglaublichste, was der deutsche Föderalismus zu bieten hat, die Gestalt gewordenen Flachheit, das einzige Bundesland, dessen Niveau sich streckenweise sogar unter Nomalnull befindet, zum Beispiel am „Großen Meer“, einem Binnensee im Ostfriesischen. Reden wir über Niedersachsen.

Seine Erwähnung treibt Entscheidern, Investoren und Top-Reformern regelmäßig Tränen der Verzweiflung in die Augen. Der verfluchte Landstrich auf dem 52. Breitengrad erweist sich seit den Anfängen der Geschichte als Bollwerk gegen moderne Lebensart und globales Wirtschaften.

Eine Vorhölle aus Schlick

Schon den Römern galt die Ödnis hinter dem „hercynic silva“, dem „undurchdringlich finsteren Waldland“ des Harzes, als Rand der Welt, als verregnete Vorhölle aus Schlick, schorfiger Heide und anthropomorpher Barbarei. Daran hat sich im Laufe der Jahrhunderte wenig geändert. Während die zivilisierte Menschheit Messer und Gabel, den Dreisatz und den Monotheismus erfand, schlürften die Niedersachsen Béchamelsoße aus der hohlen Hand und verehrten den Blitz, den Donner und die so genannte Irminsäule, „einen Holzbock von ansehnlicher Größe, der senkrecht aufgerichtet war“ (Chronist Ruodolf).

Diese hinterwäldlerische Widerborstigkeit geht zwangsläufig einher mit kultureller Regression. So kennt das niedersächsische Idiom nur zwei Fälle (Nominativ und Objektfall). Akkusativ und Dativ sind zum Objektfall verschmolzen, das Perfekt-Partizip wird ohne die Vorsilbe „ge“ gebildet. „Ik hebb soffen“, sagt der Niedersachse, wenn er wieder mal zu tief ins Glas geschaut hat. Dass er dabei nicht besonders smart aussieht, hat Johann Caspar Riesbeck schon 1783 überliefert: Die Niedersachsen seien „durchaus schneckenfarbig bleich von Farbe, weich von Fleisch und eingeschrumpft“, schrieb er in seinen „Briefen eines reisenden Franzosen“.

Ein Blick auf prominente Stammesvertreter wie Eva Herrman, Fatty „Bingo“ Thürnau oder Heinz Rudolf Kunze, beweist, wie Recht der Mann hatte. Zum üblen Ruf der Landeskinder tragen nicht zuletzt das Arbeitsethos und die Küchenkultur bei. Neben gekochten Würsten, Grünkohl mit Pinkel und in sämiger Tunke ersäuften Kartoffeln verspeist der Niedersachse vorzugsweise Gammelfleisch, welches in der Region Vechta mithilfe von Gülle und Ascorbinsäure aufgezogen und in alten Plastikwannen mindestens zwei Jahre über das Verfallsdatum eingelagert werden muss.

Um Derartiges zu verdauen, braucht es eine Menge Schnaps, die der Niedersachse ständig einnimmt, auch und gerade bei der Ausübung lokaltypischer Sportarten wie Boßeln, Rübenweitwurf, Gurken- oder Spargelziehen. Dabei ist er von Haus aus so faul, dass er letztere Disziplinen nicht ohne polnische Hilfskräfte bewältigt.

Kreuzfidele Wurschtigkeit

Da wundert es niemanden, wenn das Bruttoinlandsprodukt seit Jahren weit unter EU-Durchschnitt dümpelt. Die einzig nennenswerte Produktionsstätte, das VW-Werk, macht denn auch weniger durch Erfolgsmodelle, als vielmehr durch exklusive Lustreisen des Betriebsrates Furore. Dafür gilt vielen Ex-Personalchef Peter Hartz als ungekrönter Bordellkönig und Gründervater des Prekariats.

Diese kreuzfidele Wurschtigkeit spiegelt auch das Kulturland Niedersachsen auf vorbildlichste Weise. Skandalfilme wie „Die Sünderin“ oder das Hacker- Opus „23“, ein knalliges Gebräu aus Drogen- und Verschwörungswahn, konkurrieren hier mit der „Celler Hengstparade“, dem Springer „Saupark“, den hannoverschen „Chaostagen“ oder der Erfindung des Semikolons durch Justus Georg Schottelius. „Hier gibt es ein Miteinander von Tradition und Innovation“, trompetet der bleiche und weichfleischige Ministerpräsident Wulff zum 60. Geburtstag seiner Woiwodschaft. Aber das fällt unter das Diktum „Unser täglich Selbsttäuschung gib uns heute“ (Wilhelm Raabe).

Größere niedersächsische Geister schmettern der Welt ein ganz anderes Lied ins Gesicht. Es geht so: “Man hält den Niedersachsen oft für recht vestockt/, und auch auf andre Arten wird er grob gemobbt./ Er sei mental viel zu langsam,/ hätte zudem wenig Stil,/ das Schlimmste aber wäre:/ er tränke viel zu viel./ Doch das ist nur der Neid/ weil ihr nicht tough genug seid/ um am Arsch der Welt Euren Mann zu stehn/ denn der ist vor hier aus prima zu sehn.“ (Fitz Oblong)

Michael Quasthoff