Mit Möhren schmeißen

KINDERTHEATER In jedem Kind schlummert ein Pogotänzer: Das Atze Musiktheater spielt Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ temporeich, lustig und unterhaltsam überdreht

Der bewusste Bruch mit der traditionellen visuellen Erwartung ist ein zuverlässiger Quell beiläufiger Komik

VON KATHARINA GRANZIN

Die eine ist fast einen Kopf größer als die andere, und auch sonst sehen sich die Schauspielerinnen Guylaine Hemmer und Anna Trimper kein bisschen ähnlich. Die beiden spielen Luise und Lotte in der Musicalfassung von Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ am Atze Musiktheater. Und es funktioniert! Die gleichen Klamotten, die gleichen hellblonden Perücken (die eine natürlich zu Zöpfen gebändigt): Und schon stellt auch unter den Angehörigen der jungen Zielgruppe im Premierenpublikum niemand mehr in Frage, dass dort auf der Bühne das Konzept „Zwillinge“ dargestellt wird. Zumal bei den meisten Anwesenden die Kenntnis der Story vorausgesetzt werden kann.

Der bewusste Bruch mit der traditionellen visuellen Erwartung ist ein zuverlässiger Quell beiläufiger Komik. So geht stets ein leises Kichern durch den Saal, wenn die hochgewachsene Luise wiederholt auf die Knie fallen muss, um ihre zierlich gebaute Mutter (Simone Witte) zu umarmen. Auch sonst geizt die temporeiche Inszenierung der jungen Regisseurin Göksen Güntel nicht mit verspielt-klamaukigen Einfällen.

Ein buntes Planschbecken stellt den Bühlsee dar, an dem Lotte und Luise sich während einer Ferienfreizeit kennenlernen, dient aber ebenso als Dirigentenpodium, wenn der Vater (Moritz Ross) in der Wiener Oper „Hänsel und Gretel“ dirigiert. Wenn Luise, die als Lotte nach München zur Mutter gefahren ist, zum ersten Mal Rindfleischsuppe kochen soll, rückt sie dem Suppengemüse ratlos mit Säge und Bohrer zu Leibe. Und das Schönste: Die Mutter, die mitten im ganzen Schlamassel nach Hause kommt, weiß es auch nicht besser.

Hinreißend naiv

Um ebendieses Quäntchen überdreht ist die Inszenierung insgesamt. Die Musiknummern, zumal die Ensembleauftritte, werden da schon mal zu wild choreografierten Pogotänzen und strahlen eine urtümliche Form der Energie ab, wie Kinder sie eben haben. Nur dass es hier keine Kinder sind, sondern gestandene MimInnen, die ihren Erwachsenenkörpern diese hinreißend naive Ausstrahlung mitgeben. Eine beeindruckende Ensembleleistung!

Die Musik stammt übrigens – ebenso wie diese gesamte Bühnenfassung des Romans – von Theaterchef Thomas Sutter. Dass mit musikalischen und visuellen Motiven aus Tschaikowskys „Schwanensee“ ein anderer kultureller Subtext in die Kästner-Saga verwoben wurde, stört nicht weiter und ist wohl als augenzwinkerndes Bildungssignal an den erwachsenen Teil des Publikums aufzufassen. Er wird aber inhaltlich nicht weiterverfolgt.

Im Übrigen hat man als Zuschauer gar keine Zeit, darüber nachzudenken, wie das wohl genau gemeint sein könnte, denn dazu ist einfach zu viel los. Langweilig wird es jedenfalls nie. Wenn da vorne gerade niemand Stammestänze vorführt oder mit Möhren schmeißt, läuft garantiert ein Kerl im Flatterrock über die Bühne, oder einer kommt mit seiner Kamera vorbei und bannt die Aktionen der DarstellerInnen auf die zentral in der Bühnenmitte aufgebaute Leinwand. Auch im Kindertheater will man ja zeigen, dass man weiß, was im Erwachsenentheater gerade angesagt ist.

Dieser überbordende Aktionismus geht, so unterhaltsam er sein mag, durchaus etwas zulasten der Reflexionsebene. Die Einsicht darein, wie ungeheuerlich und mutig der Plan ist, den die beiden neunjährigen Mädchen fassen, um das jeweils andere Elternteil kennenzulernen, kann bei dem vorgelegten Tempo gar nicht aufkommen. So wird eben Luises verunglücktes Suppenkochen vor allem zu einem Quell der Komik, nicht aber zu einem Anlass, große existenzielle Verzweiflung zu zeigen. Natürlich kann man das so machen. Aber wenn man dem kindlichen Publikum ambivalentere Gefühle vorenthält, unterschätzt man es vielleicht nicht nur, sondern enthält ihm auch eine wichtige Identifikationsmöglicheit vor.

Auf Seiten Lottes, die als Luise beim Vater in Wien lebt, liegt der Quell der existenziellen Verzweiflung nicht im Kochen, sondern in der Freundin des Vaters. Die ist bei Kästner nicht viel mehr als eine böse Hexe. Die Atze-Variante allerdings – und das ist gut – zeigt diese Irene als eine etwas überkandidelte, aber letztlich gutherzige Person. Auch das süßliche Sich-Wiederfinden der Eltern fällt weg zugunsten einer offeneren Zukunftsperpektive für das Zusammenleben aller Beteiligten. Irgendwie wird sich schon alles finden. Das ist ein schönes, pragmatisches Ende, das zu Recht bejubelt wird.

■ Nächste Vorstellungen: Sa, 3. 5., 16 Uhr; Di, 6. 5. bis Do, 8. 5., 10.30 Uhr; Sa 10. 5., 16 Uhr