Kleine Engel, falsche Götter

FÜRSORGE Ob Homo-Ehe oder Internetzensur – der Politik geht es angeblich immer um das Wohl der Kinder. Wem nutzt das wirklich? Über einen Nachwuchs, der verehrt und verprügelt wird

Mit dem Schutz des Nachwuchses lässt sich alles begründen. Die Top Drei der „Denkt denn keiner an die Kinder“-Charts:

■ Platz 3: Der Techno-Track. Bei Facebook dürfen sich Kinder erst ab 13 Jahren anmelden, das lässt sich aber umgehen. Einer unter vielen Gründen für Diskussionen darüber, ob und wie Kinder im Internet überwacht werden können oder sollen – zu ihrem eigenen Schutz natürlich.

■ Platz 2: Der Evergreen. Homosexualität. Ob Heirat oder Adoptionsrechte, das Thema kommt immer gut an. Im Kern geht es der heterosexuellen Mehrheit offenbar um die Frage: Machen schwule Väter ihre Söhne schwul und lesbische Mütter ihre Töchter lesbisch? Nein – sagen Studien immer wieder. Konservative bezweifeln das.

■ Platz 1: Der Emo-Song. Sterbehilfe. Im Februar 2014 legalisierte das belgische Parlament Sterbehilfe für schwerkranke Minderjährige. Die katholische Kirche, viele KinderärztInnen und halb Deutschland liefen dagegen Sturm.

VON NINA APIN
UND ARNO FRANK

Springfield ist ein fiktives Städtchen in der US-Zeichentrickserie „Die Simpsons“. Dort ist die Welt noch in Ordnung, damit sie Folge für Folge aus den Fugen geraten kann. Wenn dann die bedrohte Gemeinde fieberhaft über Lösungen verhandelt, meldet sich verlässlich Helen Lovejoy zu Wort, die bigotte Gattin des Pfarrers. Ihr Tremolo: „Kann denn nicht ein einziges Mal jemand an die Kinder denken?!“

Diesen Ruf kann man auch außerhalb von Springfield überall hören. Politiker und Publizisten stellen in schöner Regelmäßigkeit handfeste politische Forderungen, die sie mit einem Verweis auf das Befinden der Kinder begründen. Es scheint kein besseres Motiv zu geben – egal für welche Forderung. In Baden-Württemberg streitet man derzeit erbittert über Pläne des grünen Kultusministeriums, Schulkindern die Akzeptanz sexueller Vielfalt zu vermitteln. Auch die Gegner dieses Plans, die seit drei Monaten vor dem Stuttgarter Landtag demonstrieren, treibt die Sorge um die Kinder. Sie befürchten, dass man ihren Nachwuchs in der Schule verdirbt.

Auf dem Höhepunkt der Affäre um den an Abbildungen nackter Knaben interessierten Abgeordneten Sebastian Edathy brachte Andreas Fischer, Direktor der Niedersächsischen Landesmedienanstalt, sogenannte Pornofilter nach dem Vorbild von Großbritannien ins Spiel. Dort hatten die vier großen Internetprovider auf Druck der Regierung Ende 2013 voreingestellte Filter eingeführt. Wer gesperrte Inhalte wie Pornos sehen will, muss seinen Zugang selbst freischalten oder den Provider kontaktieren. Auf Wunsch lassen sich auch Inhalte zu Waffen, Suizid und Filesharing filtern.

Parallel dazu forderte Ende Februar in der ARD-Talkshow von Günther Jauch die Familienministerin Manuela Schwesig härtere Strafen für den Handel mit Fotos von nackten Kindern. Kinderschutz, da war die SPD-Politikerin mit sich selbst und dem applaudierenden Publikum einig, müsse immer an erster Stelle stehen: „Wer Kinder benutzt, muss verfolgt und zur Rechenschaft gezogen werden.“

Nach dieser Logik könnte nun auch Justizminister Heiko Maas zur Rechenschaft gezogen werden. Benutzte der SPD-Politiker nicht „die Kinder“ für einen Gesetzentwurf, der „bloßstellende Aufnahmen und Nacktaufnahmen von Erwachsenen“ gleich mit unter Strafe stellen sollte?

Es scheint fast, als würden immer alle an die Kinder denken. Härteres Strafrecht, Internetzensur, Eingriffe in den Bildungsauftrag des Staates, erhitzte Debatten über die Homo-Ehe, über Knabenbeschneidung, Inklusion oder das Betreuungsgeld für Eltern, die mit ihren Kleinkindern zu Hause bleiben wollen – in all diesen Debatten erweist sich das Kindeswohl als geradezu panzerbrechendes Argument. Wer auf dieses erhitzte Moralisieren sich nicht einlässt, wer abwägen oder rundheraus widersprechen möchte, katapultiert sich ins soziale Abseits.

Der findet sich schnell außerhalb einer Gesellschaft wieder, die um den Schutz, die Rechte und das Wohlbefinden ihrer Kinder heilige Tänze aufführt. Wie etwa „Helikoptereltern“, die ihre Elternschaft mit Produktmanagement verwechseln. Denn, wie der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt: „In allen Schichten leuchtet heute das willkommene Kind in den Augen seiner Erzeuger kostbar wie eine mit dem Mund geblasene vergoldete Christbaumspitze.“

Das Kind ist in doppelter Hinsicht ein Götze. Einerseits als anbetungswürdiger kleiner Engel, andererseits als dämonischer falscher Gott. So verläuft eine unsichtbare Grenze zwischen Menschen, die zu Kindern eine dauerhafte Fürsorgebeziehung eingegangen sind – und Menschen, die eine solche Beziehung als Zumutung empfinden, weil sie mit spürbaren Einschränkungen verbunden ist und damit dem individuellen Glücksversprechen zuwiderläuft.

Familienpolitik ist nichts anderes als der Versuch, diese Grenze vermittels finanzieller Anreize durchlässiger zu gestalten. Aus staatlicher Perspektive sind Kinder selbstredend etwas Wünschenswertes, das schmackhaft gemacht werden muss. Was in den modernen Mythos mündet, Kinder seien unverzichtbar und ein Leben ohne sie zwar möglich, aber sinnlos.

Ein Glücksversprechen, das Kinder unmöglich einhalten können. Sie sind für unser Glück nicht zuständig und für unser Unglück nicht verantwortlich.

Umgekehrt sind wir Erwachsenen aber durchaus für das Glück der Kinder verantwortlich. Und damit auch für ihr Unglück, ausnahmslos. So hell das willkommene Kind heute in allen Schichten leuchten mag, so düster ist die Welt zu den Kindern überforderter Erzeuger in allen Schichten. Wo viel Licht, da viel Schatten. Wenn das Wohl der Kinder in unserer Gesellschaft nominell ganz oben auf der Agenda thront, dann deshalb, weil dieses Wohl de facto prekär ist. Lange nach dem Sonnenkönig herrschen Eltern in den eigenen vier Wänden faktisch noch immer unumschränkt wie absolutistische Fürsten. Denn trotz Jugendamt und gesetzlichen Prügelverbots – sie haben die unmittelbare Macht. Über einen Nachwuchs, der als Eigentum betrachtet, mit sadistischer Systematik gequält wird oder als Blitzableiter für aggressive Impulse herhalten muss.

Es ist die dunkle Rückseite der strahlenden Kulisse von der „kinderfreundlichen Gesellschaft“. Dort werden die tatsächlich relevanten Schlachten um das Kindeswohl ausgefochten. Hier werden Kinder nicht nur gehätschelt, überfördert oder überfordert. Hier werden sie seelisch oder körperlich gequält.

Eine, die sich an dieser Front sehr gut auskennt, ist Saskia Etzold. Am Berliner Charité-Institut für Rechtsmedizin in der Turmstraße untersucht sie täglich geprügelte Ehefrauen, zusammengeschlagene Männer und immer wieder auch misshandelte Kinder, lebendig und tot. Sie bekommt die ganz schweren Fälle von Kindesmisshandlung auf den Tisch: Säuglinge, die von den Eltern in die Behinderung geschüttelt werden, Kinder, die mit heißem Wasser verbrüht, mit brennenden Zigaretten gebrannt, geprügelt werden, bis die Knochen brechen.

Etzold empfängt in ihrem Büro in Berlin-Tiergarten mit festem Händedruck. Sie trägt das blonde Haar kurz, Perlenkette, graues Kostüm, das Schild an ihrer Tür verkündet: „Ich bin keine Zicke!“ Etzolds Computermaus ist mit pinkfarbigen Strasssteinen überzogen, neben ihrem Monitor steht ein kleiner Stöckelschuh, ebenfalls in Pink. Der freundliche Nippes wirkt wie ein Abwehrzauber gegen ihren Arbeitsalltag. Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, in einem Land zu leben, in dem Elternrechte wichtiger sind als Kinderrechte.“

Zusammen mit ihrem Chef, dem Gerichtsmediziner Michael Tsokos, hat Etzold ein Buch geschrieben. Es heißt „Deutschland misshandelt seine Kinder“ und ist eine wütende Anklage gegen ein Land, das Kindesmisshandlungen „kollektiv verleugnet“. Es treten auf: überforderte Jugendämter, gleichgültige oder zynische Familienhelfer, ahnungslose Richter und Polizisten.

Dem Staat als oberstem Wächter des Kindeswohls werfen die Autoren Versagen vor. Es ist ein Bestseller. Ein drastisches Buch. Erst im März wurde Etzold wegen eines Kapitels aus diesem Buch als Gutachterin für befangen erklärt – in dem Prozess gegen die Eltern der kleinen Zoe, die 2012 mit 33 Monaten an massiven Entzündungen starb, die sie sich wegen eines Darmrisses zugezogen hatte. Verletzungen, die vermutlich auf einen Schlag oder Tritt in den Bauch zurückzuführen sind.

Drei tote Kinder begegnen Etzold jede Woche „und siebzig, die so schwer misshandelt werden, dass sie ärztliche Hilfe brauchen“. Das seien nur die bekannten Fälle, im Fachjargon „Hellfeld“ genannt. Zusammen mit dem Dunkelfeld ergäben sich nach konservativen Schätzungen jährlich 200.000 misshandelte Kinder in Deutschland, mit großer Wahrscheinlichkeit mehr. Wie passt das zu den lauten Rufen, Kinder müssten immer an erster Stelle stehen?

Womöglich muss umso lauter gerufen werden, je größer die Gefahr für das Kindeswohl ist. So bemängelt Etzold, gewalttätige Eltern könnten ihre Taten verbergen, weil ihnen der Datenschutz in die Hände spiele: „Manche betreiben regelrechtes Kinderärzte-Hopping, um sich Nachforschungen zu entziehen. Ich habe einen Fall erlebt, da waren die Eltern in acht Wochen bei 21 Kinderärzten.“ Die Strategie geht auf, weil die Befunde nicht gespeichert werden. Hier sind es Datenschutzgründe, die ein Verschleiern der Taten erleichtern. Was läuft falsch in unserer sich so aufgeklärt und modern dünkenden Gesellschaft?

Nichts. Es gibt ein modernes Bewusstsein dafür, wie wir mit Kindern umgehen sollen und wie nicht. Spätestens mit der Ächtung „erzieherischer Gewalt“ im Jahr 2000 ist dieses Bewusstsein sogar gesetzlich festgeschrieben. Was will man vom Staat mehr verlangen? Der Journalist und ehemalige Richter Heribert Prantl stellte dazu fest, dass die lange Geschichte der alltäglichen Prügelei in Schule und Familie erst „vor einer historischen Sekunde zu Ende“ gegangen sei. Erst 1973 wurden schulische Körperstrafen abgeschafft. Und noch 1988 hatte der Bundesgerichtshof eine „gelegentliche Tracht Prügel“ mit einem „stockähnlichen Gegenstand“ nicht „pauschal verdammen wollen“. Es müssten, sprachen die Richter, eben „alle objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens“ geprüft werden. Und weil solche Urteile nicht gar so lange zurückliegen, schlagen manche Eltern heute noch – zu Hause, bei zugezogenen Vorhängen, wo es keiner sieht.

Mit der Polizei zur Vorsorgeuntersuchung

Etzold befürwortet deshalb Lösungen wie die Datenbank „Risk Kids“, die im Düsseldorfer Raum im Einsatz ist. Kinder- und Jugendärzte können darin Familien eintragen, deren Kinder misshandlungsverdächtige Verletzungen aufweisen. Das Verfahren sei, sagt Saskia Etzold, „effizient und mehrfach auf Datenschutzverträglichkeit geprüft“. Trotzdem gebe es in einigen Bundesländern Bedenken, dass die Rechte der Eltern beschnitten werden.

„Das verstehe ich nicht“, sagt Rechtsmedizinerin Etzold. Sie und ihr Mitautor Tsokos fordern eine bessere Ausstattung der Jugendämter und mehr Prävention. Um Familien mit Problemen zu erreichen, müsste dieses Angebot allerdings verbindlich für alle werden, ebenso wie die Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt. Das derzeit praktizierte „verbindliche Einladewesen“ – also die vorgeschriebene Teilnahme an kinderärztlichen Untersuchungen – nütze nichts, solange keine Konsequenzen drohten und Eltern die Person vom Amt nicht einmal in die Wohnung lassen müssen. Nicht kooperierenden Eltern sollte das Elterngeld gestrichen werden oder die Polizei müsse die Kinder zum Arzt bringen.

Der Staat als oberster Anwalt des Kindeswohls? Oder Akteur sozialer Bevormundung? Etzold und Tsokos haben viel Kritik für ihre Vorschläge eingesteckt. „In Deutschland ist man bei dem Thema besonders empfindlich“, sagt Etzold. Dabei gehe es nur um Standarduntersuchungen, die Krankheiten und Fehlentwicklungen verhüten helfen sollen. Etzold findet: „Bei der Frage, ob das Elternrecht schwerer wiegt oder das Recht des Kindes auf eine gesunde Entwicklung, setzt man in Deutschland die falschen Prioritäten.“

So hätten beispielsweise Jugendämter kein Recht, unangekündigt Wohnungen zu inspizieren: „Ich habe einen Fall erlebt, in dem die Partnerin, die Kinder und die Haustiere misshandelt wurden. Der Richter befand es nicht für nötig, der Polizei Zutritt zur Wohnung zu erlauben. Hineingekommen ist man in die Wohnung über den Tierschutzbund!“

In Deutschland aber hätten es Eltern schwer, überhaupt an Hilfsangebote heranzukommen – schon weil es verpönt sei, sich Unterstützung zu holen. Wer den Beistand des Jugendamts in Anspruch nimmt, hat als Eltern versagt, so das kollektive Gefühl. Anderswo, etwa in den Niederlanden, hat staatliche Hilfe für überforderte Eltern eine lange Tradition. „Auch wir finden: Die Familie ist der beste Ort, in dem Kinder aufwachsen können“, sagt Etzold. Der größte Teil der Eltern in Deutschland gehe toll mit seinen Kindern um. „Aber wir reden hier von Fällen, in denen Kindern in der Familie die Knochen gebrochen werden. Da kann es nicht sein, dass wir als Staat akzeptieren, dass das wiederholt geschieht – nur weil wir der Ansicht sind, dass die Familie der einzige Ort ist, in dem ein Kind aufwachsen kann.“

Woran es liegt, dass misshandelte Kinder immer wieder ihren Eltern zurückgegeben werden? Weil es billiger ist für den Steuerzahler. Aber vor allem, weil der Wunsch nach einer perfekten Familie wie eine Folie über unserer Wahrnehmung liegt.

Zwar ist die Margarine-Familie aus dem Werbefernsehen konservative Propaganda für ein ideologisches Konstrukt mit ordnungspolitischen Funktionen. Aber eben eine Propaganda, die wirkt.

Weshalb man auch dem „Familienvater“ als Hüter dieser „Keimzelle der Gesellschaft“ instinktiv immer das Adjektiv „braver“ voranstellen möchte. Dabei kann eine Familie, eben weil sie eine sehr kleine parastaatliche Einheit darstellt, sowohl Anarchie als auch Faschismus bedeuten. Sie kann ein Garten sein oder ein Dschungel. Ja, manchmal herrscht beim Frühstück demokratische Utopie und beim Abendessen tyrannische Dystopie. Immer aber ist sie eine Blackbox, die verdeckt, was sich in ihr ereignet. Und Menschen wie Etzold und Tsokos verstehen sich als Verteidiger des Kindes gegen den Ansturm einer Welt, die von nicht immer wohlmeinenden Erwachsenen gestaltet wird. Gerade weil Kinder als wertvoll wahrgenommen werden, sind sie die idealen Opfer. Man müsste schon mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu sehen, wie allerorten beispielsweise das durchaus hohe Gut infantiler Unschuld ausgebeutet wird.

Welches erotische Ideal verkörpern wohl anorektische Models? Und woran erinnern intimrasierte Geschlechtsteile? Die Tatsache der permanenten Gefährdung von Kindern widerspricht nicht der kitschigen Erzählung von ihrer Kostbarkeit. Auf der einen Seite sind kommerzielle Ausbeutung und soziale Selbstausbeutung des kindlichen Körpers so allgegenwärtig, dass Eltern mit Blick auf die sexy Selfies ihrer elfjährigen Töchter nur noch mit den Schultern zucken: „Ist halt heute so, was will man machen?“ Auf der anderen Seite ist gesellschaftliche Ächtung sexualisierter Gewalt radikaler und hysterischer denn je. Beide Seiten verhalten sich komplementärer, als wir wahrhaben wollen. Was wäre denn das ominöse „Kindeswohl“, wenn nicht eine Definition von Erwachsenen? Und ist es als Projektion – zugleich in die eigene Vergangenheit wie in eine wünschenswerte Zukunft – nicht immer wieder Gegenstand von teilweise erbittert geführten Neuverhandlungen?

In Wiesbaden wird das Kindeswohl berechnet

In Paragraf 1626 des Bürgerlichen Gesetzbuchs lässt sich nachlesen, welche Forderungen unsere Gesellschaft an die „elterliche Sorge“ für das Kindeswohl stellt: „Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge).“

Tatsächlich ist eine wachsende Zahl von Eltern außerstande, für das finanzielle Vermögen des Kindes angemessen zu sorgen. Beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden fassen Mathematiker das Wohl der Kinder in Ziffern und Tabellen. Demnach erreicht eine Familie aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren den „Schwellenwert für Armutsgefährdung“, wenn im Jahr nur rund 25.000 Euro erwirtschaftet werden. Jenseits dieser Schwelle erleben Kinder eine armutsbedingte Abkopplung von den üblichen gesellschaftlichen Aktivitäten, die ihre Entwicklung beeinträchtigt und von den Mechanismen staatlicher Wohlfahrt nur bedingt abgefedert werden kann. Im jüngsten Erhebungsjahr, 2012, betrug die Armutsgefährdungsquote „vor Sozialleistungen“ 30,8 Prozent aller „unter 18-Jährigen“. Nach Hartz IV und Kindergeld verbleiben noch immer 15,2 Prozent in einer systembedingten Chancenlosigkeit.

Während also Mittelschicht und Oberschicht weiter ihre Christbaumspitzen polieren, ihre Kinder auf Leistung trimmen können, werden die Familien der Unterschicht sozial abgehängt und sich selbst und dem überlassen, was nur als Elend zu bezeichnen ist. In einem weiteren Absatz des Paragrafen 1626 heißt es: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.“ Eltern, die in Armut leben, können mit ihren Kindern höchstens ein Einvernehmen hinsichtlich des gemeinsamen Elends anstreben.

Wer also definiert das Wohl im Einzel- und Zweifelsfall, wenn ein Einvernehmen nicht möglich ist? Der Vormund, klar. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt, ab dem die Gesellschaft die Vorgaben macht. Wann ist dieser Punkt erreicht?

Wenn es um die Unversehrtheit des Kindes geht. Auch dann, wie aktuell in Baden-Württemberg, wenn die Aufklärung über sexuelle Vielfalt politisch gewollt ist. Was unter Umständen mit den eher konservativen Vorstellungen der Eltern darüber kollidiert, mit welchen Werten sie ihren Nachwuchs aufziehen. Wer hat hier die Hoheit?

Diese Frage ist deswegen so heikel und so entscheidend, weil sie direkt zum verborgenen Kern dessen führt, wer diese Wesen eigentlich sind, um deren Wohl wir vermeintlich so ausdauernd ringen. Das Kind ist nie Naturkind, es ist immer Kind seiner Kultur.

Gegen Fluglärm haben auch Kinder keine Chance

Im Slum von Kalkutta braucht es andere Fähigkeiten als in einem Palast in Riad. An einem Nebenfluss des Amazonas werden andere Initiationsriten gepflegt als am Mississippi, in Helsinki andere als in Los Angeles, wo wiederum gewaltige Unterschiede zwischen Kindern in Hollywood und Kindern in South Central zu beobachten sind.

Alle Kinder sollen gleichbehandelt werden? Aber gewiss, doch, sofern ihr Wohl nicht mit anderen, handfesteren, nämlich wirtschaftlichen Interessen ins Gehege kommt. So etwa, wenn in Berlin-Tegel oder Frankfurt am Main Flugzeuge weitgehend starten und landen dürfen, wie es ihnen behagt. Und das, obwohl Kinder bekanntlich mehr Schlaf brauchen, als eine nächtliche Betriebspause zwischen 23 Uhr abends und 5 oder 6 Uhr morgens gewährleisten kann. Nirgendwo werden Kinder, wie uns ein universeller Kitsch zu suggerieren nicht müde wird, als unschuldige Wesen mit eigenem Recht behandelt.

Wenn Kinder „unbeschriebene Blätter“ sind, dann nur in dem Sinne, dass die Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden, sie ganz selbstverständlich mit ihrem eigenen Text beschreiben darf. Normalerweise besorgt das der seinerseits mit den entsprechenden Konventionen erzogene Vormund. Fallen aber die Eltern aus pathologischen oder weltanschaulichen Gründen aus der vorhergesehenen Rolle, übernimmt der Staat – zum Wohl des Kindes. Denn das Wohl des Kindes ist immer auch das seine – und er braucht auch ständig Nachwuchs.

Es gibt aber nur zwei Wege, in diese Gesellschaft einzuwandern. Beide sind heikel und politisch brisant, weil nur die Zuwanderung der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht, so etwas wie Kontinuität zu erzeugen. Die erste Form der Einwanderung ist die grenzüberschreitende Migration meist Erwachsener, womöglich aus anderen Kulturkreisen. Ob und wie diese Menschen integriert, also auf eine deutsche Erzählung eingeschworen und Staatsbürger werden können, ist Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Die zweite Gruppe von Migranten reist nicht über die Grenze ein – sondern über den Kreißsaal. Es hilft, sich Säuglinge als uterale Einwanderer vorzustellen. Die Integration gilt erst mit abgeschlossener Ausbildung als vollendet, also nach etwa zwanzig Jahren. Noch als Kleinkinder werden die Einwanderer durch folkloristische Rituale religiös eingemeindet und alle anderen Optionen für sie damit erst einmal ausgeschlossen. Was für ein Eingriff!

Noch bevor das Kind sein erstes Wort gesprochen hat, wird in seinem Namen darüber verhandelt, wer wir selbst sein wollen. Wir schaffen den Menschen nach unserem Ebenbild.

Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes trat 1990 in Kraft. Zehn Grundrechte sollen für alle gelten:

■ Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung, unabhängig von Religion, Geschlecht und Herkunft

■ Das Recht auf einen Namen und eine Staatszugehörigkeit

■ Das Recht auf Gesundheit

■ Das Recht auf Bildung und Ausbildung

■ Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung

■ Das Recht, sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln

■ Das Recht auf Privatsphäre und gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens

■ Das Recht auf sofortige Hilfe in Katastrophen und Notlagen und auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung, Ausnutzung und Verfolgung

■ Das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause

■ Das Recht auf Betreuung bei Behinderung

Kürzlich war es Ärzten als Agenten der Gesellschaft noch unbenommen, das unklare Geschlecht eines Neugeborenen mit einem Schnitt zu determinieren, statt es im Ungefähren zu lassen. Mit welchem Recht?

Doch wie sähe es denn aus, wenn die Kinder für sich sprächen, wenn sie ihr Wohl selbst bestimmten? Es gibt ein solches Utopia – in Schwedt, einer dahinschwindenden Stadt an der Grenze zu Polen. Im ersten Stock des „Kinderrechte-Cafés“ basteln Mütter mit ihren Kindern Osterschmuck, im zweiten versammeln sich Rico, Lena, Lisa, Leon und sechs andere Kinder im Kreis um kleine bunte Tafeln auf dem Boden. „Kinder sind neugierig – sie haben ein Recht auf Information und Schulbildung“, steht da, „Kinder wollen spielen, sie brauchen Spielplätze und Bewegung“ oder „Kinder sollen gesund aufwachsen dürfen“. Die zehn Grundschülerinnen und Grundschüler und ihre beiden Projektleiterinnen sprechen über die kindgerecht verknappte UN-Kinderrechtskonvention.

Die Kinder können sich ganz praktisch ihrer Rechte bewusst werden und, quasi nebenbei, ein erstes Verständnis für Demokratie entwickeln. Bei Chips, Keksen und Erfrischungsgetränken fragt die Projektleiterin Katja Neels: „Welche Rechte haben Kinder?“ Die Kinder zählen eifrig auf: „Alle sollen gleichbehandelt werden“, „niemand wird ausgeschlossen, ob dick oder dünn, mit oder ohne Sommersprossen“.

In der Gruppe selbst klappt es mit der Gleichbehandlung allerdings nicht so gut. Drei Mädchen piesacken die anderen, besonders einen klein gewachsenen Jungen. Kinder, auch das kann man hier lernen, sind nicht unbedingt nette, demokratisch gesinnte Menschen.

Deswegen greifen die Erwachsenen dann doch ein. Die beiden Leiterinnen haben ein Segelboot an die Tafel gemalt. Jedes Kind soll dafür ein Segel anfertigen und darauf schreiben, was es sich für sich selbst wünscht und was für die Gruppe. Die Botschaft ist klar: Der „Kinderrechte-Club“ kann nur funktionieren, wenn alle mitmachen und in die gleiche Richtung segeln. Ein gemeinsames Ziel hat die Gruppe bereits formuliert: Die Kinder wollen chinesische Glückskekse backen und verkaufen, um mit dem Erlös kranken Kindern zu helfen.

Den Rahmen bestimmen die Erwachsenen

„Anderen helfen, denen es schlechter geht, das war der erste Impuls“, sagt Katja Neels. Über die Details diskutiert die Gruppe noch. Soll man die Kekse auf der Straße verkaufen – oder an die Eltern? Soll man mit dem Erlös einen Clown für die örtliche Kinderkrankenstation bezahlen? Oder das Geld lieber einer Hilfseinrichtung stiften? Erste Erkenntnisse stellen sich bereits ein. Wer Rechte hat, muss auch Verantwortung übernehmen. Dem energischen Hausmeister, der das Toben auf der Feuertreppe untersagt, wird erst widersprochen – aber am Ende doch Folge geleistet. Schließlich will der Kinderrechte-Club nicht wegen Missachtung der Hausordnung aus dem Gebäude fliegen. Denn die Hausordnung, den Rahmen also, setzen die Erwachsenen.

Dass Kinder überhaupt Rechte haben könnten, dass sich die Welt durch ihre Augen sehen ließe, ist eine sehr junge Idee, nur 250 Jahre alt. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau war es, der mit „Emile oder über die Erziehung“ die ideologischen Grundlagen dessen bereitet hat, was wir heute Kindheit nennen. Als schützenswertes Gut wurde sie erst von einem Bürgertum erkannt, das im 19. Jahrhundert nach Erlangung der wirtschaftlichen Macht bald auch nach der politischen greifen sollte. Seitdem ist der Nachwuchs genau das – eine nachwachsende Ressource, mit der unsere Gesellschaftsordnung sich Generation für Generation selbst erneuert.

Progressive Kräfte wollen die Kinder tendenziell von dieser Hypothek befreien, womit nicht selten noch mehr Unheil angerichtet wird – man denke nur an die Pädophiliedebatte in den Siebzigern, die Auswüchse der Reformpädagogik oder den Missbrauch an der Odenwaldschule. Konservative Kräfte wiederum begreifen das Kind tendenziell als Ressource, in die zu investieren sich lohnt, weil ihm eines Tages schlechterdings alles vererbt werden wird – unsere Geschichte und Gedichte, unsere Werte und Aktienwerte, aber auch unser Kanzleramt, unsere Atomkraftwerke, unser Genmais, unsere U-Boote, unser Leistungsdenken, unsere Deutsche Bank. Vorausgesetzt, dass unsere Kinder dieses systemische Erbe nicht ausschlagen. Wofür es gute Gründe gäbe, die immer besser werden, je mehr wir eine globale Perspektive einnehmen.

Ein Blick in die Statistiken des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, Unicef, zeigt, dass jedes vierte Kind nichts oder zu wenig zu essen hat. Allein in Asien werden jährlich eine Million Kinder zur Prostitution gezwungen. Rund neun Millionen Kinder schuften als Schuldknechte und Zwangsarbeiter. Oder sie kämpfen als Soldaten.

Kinder im Bergwerk. Im Puff. Im Krieg

Von der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir sind in diesem Zusammenhang drei kalte und zugleich berührende Sätze zum Kindeswohl überliefert: „Wir können den Arabern vergeben, dass sie unsere Kinder töten. Wir können ihnen nicht vergeben, dass sie uns zwingen, ihre Kinder zu töten. Frieden wird es erst geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“ Zum kulturellen Portfolio, das wir eines Tages vererben werden, gehört auch der Hass auf das Andere, den Feind. Wäre unsere Spezies eine Familie, den Eltern müsste das Sorgerecht entzogen werden.

Kinder im Bergwerk. Kinder im Puff. Kinder im Krieg. So etwas könne bei uns nicht mehr passieren, bilden wir uns gern ein. Aber abgesehen davon, dass auch in Deutschland einiges im Argen liegt, verbindet das chronische Krisengebiet da draußen und die hiesige Wohlstandsinsel die willkürliche Rede vom Wohl der Kinder. Heute tragen es Politiker noch weihevoll wie eine Monstranz vor sich her, morgen werden sie es wie ein lästiges Hindernis beiseitewischen.

Mit dem Schutz der Kleinsten begründet, um nur ein weiteres Beispiel herauszugreifen, Russlands Präsident Wladimir Putin die Zensur des Internets und restriktive Gesetze gegen Homosexuelle. Der starke Mann des Ostens war sich nicht zu schade, Schwule im Fernsehen anzuflehen: „Lassen Sie die Kinder in Ruhe, bitte.“ Dass in seinem Land Kinderarmut von horrenden 24 Prozent herrscht, beschäftigt ihn öffentlich weit weniger.

Der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon schrieb: „Wer Gott sagt, will betrügen.“ Der rechte Staatstheoretiker Carl Schmitt ergänzte: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ Was will wohl, wer im politischen Diskurs ruft: „Kann denn nicht ein einziges Mal jemand an die Kinder denken?“

Nina Apin, 40, ist Gesellschaftsreporterin im Berlin-Teil der taz und hat zwei Kinder

Arno Frank, 43, ist Hessen-Korrespondent der taz und hat auch zwei Kinder