Charaktervolle Monster

Seit seiner Kindheit denkt sich Chris Kunzmann Wesen aus, die ganze Städte zerstören. Seine Firma „Chris Creatures“ ist heute eine der gefragtesten Adressen für Filmeffekte. Ein Dutzend Mitarbeiter basteln an Yetis, Tentakeln und Riesenmaden – am Computer und an Modellen in der eignen Werkstatt

„Ich verwandelte eine Grobi-Puppe in ‚Godzilla‘ und zerstörte in meinem Kinderzimmer Tokio“

VON THOMAS JOERDENS

„Ich denke mich in das Wesen hinein“, sagt Chris Kunzmann und rekelt sich mit einer Kaffeetasse in der Hand in eine bequeme Position auf seinem Stuhl. Wie viel Fantasie braucht der Mensch, fragt man sich, um gedanklich in eine comicartige Dino-Kralle, eine eklige Riesenmade oder einen Tentakel zu schlüpfen. Solche Dinge kreiert der Filmeffektmacher Chris Kunzmann regelmäßig. Der bärtige 40-Jährige mit dem Silberschmuck im linken Ohrläppchen und an einigen Fingern schüttelt ein herzliches Weihnachtsmannlachen aus dem Bauch. Nein, so weit gehe sein Einfühlungsvermögen nicht. Er bezieht die Empathie auf die so genannte Charakterbildung bei Filmfiguren. „Wenn der Filmproduzent von mir zum Beispiel einen Yeti will, setze ich mich hin und überlege, wie der aussehen könnte. Ob der süß, traurig, gefährlich sein oder andere Eigenschaften haben soll. Außerdem ist die technische Umsetzung wichtig.“

Inspirationen schöpft Chris Kunzmann aus Büchern sowie anderen Medien, doch besonders aus seiner Kreativität und Erfahrung. „Das Wichtigste ist, dass der Charakter vom Zuschauer angenommen wird. Künstlich wirkende Figuren schaffen das nicht“, doziert der Meister. „Dieser Entwicklungsprozess macht mir am meisten Spaß. Leider dauert der nie lange, weil beim Film immer alles ganz schnell gehen muss.“ Manchmal von heute auf morgen.

In der Welt der perfekten Illusionen ist Chris Kunzmann mit seiner Firma „Chris Creatures“ in den Friedenauer Goerz-Höfen eine angesagte Adresse in Sachen Filmeffekte. Gerade hat der Chef für den Kinofilm „Die rote Zora“ einige Tintenfisch-Tentakel fertiggestellt. Die Kunststoffarme sind bereits auf dem Weg zum Set. Auf dem Arbeitstisch in der Werkstatt liegen noch die Formschalen. Einige Räume weiter in der digitalen Abteilung konzentrieren sich Computerspezialisten auf einen anderen Auftrag. Sie arbeiten an „Rennschwein Rudi Rüssel 2“. Details darf Chris Kunzmann nicht verraten.

In seiner Werkstatt steht in einer Ecke ein 2,20 Meter großes Zottelwesen mit flauschigem Flokati-Pelz. Die blauen Augen blitzen freundlich hinter weißen Haarsträhnen, und der große Mund mit den gelblichen Hauern ist zum lächelnden Gruß geöffnet. Der Yeti, der neben Steffi Graf als zweiter Hauptdarsteller durch einem Werbespot der Telekom stapfte, sieht zwar gewöhnungsbedürftig aus, wirkt aber wie ein angenehmer und vor allem lebendiger Zeitgenosse. „Das liegt an den Augen“, verrät Chris Kunzmann und tätschelt neben dem Yeti einen kuscheligen braunen Elch. Das possierliche Tier aus dem Weihnachtsfilm „Es ist ein Elch entsprungen“ mit Mario Adorf schaut einem direkt ins Gesicht. „Das schaffen die Fluchttiere in echt gar nicht, weil sie die Augen seitlich am Kopf haben, wie Pferde.“ Doch Chris Kunzmanns vermenschlichte, treu blickende Variante wächst uns schneller ans Herz, sie scheint fast aus Fleisch und Blut. Und kein gebasteltes, starres Modell aus Kunstfell, Plastikgeweih sowie 36 Elektromotoren. So funktioniert Kintopp.

Der Chef beschäftigt auf einer Fläche von 500 Quadratmetern ein halbes Dutzend feste und neun freie Mitarbeiter. Angefangen hatte Chris Kunzmann 1989 als Ein-Mann-Betrieb. „Die Werkstatt war zuerst ein voll gestopftes Zimmer in meiner Wohnung, wo ich kleine Handpuppen für ein Weddinger Puppentheater herstellte“, erzählt der Manager, der sich in der ersten Zeit mit dem Verdienst als Kulissenmaler über Wasser hielt. Um 1990 trudelte „über ganz viele Ecken“ der erste Filmauftrag ein. Chris Kunzmann sollte eine voll bewegliche Animatronik-Biene für „Otto – Der Liebesfilm“ bauen. Seitdem ging es mit dem Filmeffekt-Geschäft stetig bergauf.

Das „Chris Creatures“-Team kreiert überwiegend für deutsche Kino-, TV- und Werbe-Produktionen Spezialeffekte und Charaktere. Auch Kunzmanns Kollegen sind Quereinsteiger im Filmgeschäft: Zur Mannschaft gehören Maskenbildner, Modellbauer, Stuckateure, Techniker, Zeichner, Computeranimateure, Grafiker. „Ich wollte schon als Kind Filmeffekte lernen“, sagt Kunzmann. „Aber es gibt diesen Lehrberuf bis heute nicht.“

Das handwerkliche Rüstzeug verschaffte er sich während seiner Ausbildungen zum Kürschner, Schaugewerbegestalter und Herrenschneider. Erste Filmeffekt-Erfahrungen hatte der „Godzilla“-Fan bereits als zehnjähriger Knirps gesammelt. „Ich verwandelte eine Grobi-Puppe in ‚Godzilla‘, bemalte Schuhkartons wie Hochhäuser und zerstörte in meinem Kinderzimmer Tokio. Zum Schrecken meiner Mutter“, erinnert sich Chris Kunzmann lachend.

Schon als Kind liebte er Science-Fiction-Filme. „Mich faszinierten schon immer diese lebendigen, fremden Welten, die Charaktere.“ Chris Kunzmann schwärmt von Klassikern, wie den „Star Wars“-Filmen, „Jurassic Park“ und von E. T., „einer der besten Charaktere, die es je im Kino gegeben hat“. Er selbst scheint an das Alien-Vorbild anzuknüpfen. Chris Kunzmann gilt in der Filmszene als Fachmann für freundliche Figuren.

Diese entstehen zunehmend am Computer. Nur noch selten modelliert Kunzmann in seiner Werkstatt. Vor einigen Jahren stürzte er sich zusätzlich auf die digitale Charakterbildung. Für die Märchenverfilmung „Kalif Storch“ entwickelte der Spezialist alle fliegenden Protagonisten am Bildschirm. Digitale Effekte gehören mittlerweile zum Kanon deutscher Filmemacher. 2005 war das Verhältnis zwischen digitalen und praktischen Effekten noch ausgewogen, in diesem Jahr überwogen in den Auftragsbüchern bei „Chris Creatures“ die digitalen Effekte.

Die Vorteile liegen für Chris Kunzmann auf der Hand. „Größenverhältnisse spielen am Computer überhaupt keine Rolle mehr. Digital kannst du problemlos einen ‚T. Rex‘ über den Ku’damm schicken. Mit Modellen wird das schwierig.“ Außerdem seien anatomisch feinere Charaktere möglich als beim klassischen Modellieren. Doch die Computertechnik könne Modellbauer, Maskenbildner und andere Handwerker nicht ersetzen. „Schauspieler reagieren auf reale Figuren viel lebendiger und authentischer“, meint Chris Kunzmann.

Die „Chris Creatures“ ist nach den Worten ihres Chefs „gut im Futter“. Jetzt versuchen Chris Kunzmann und Co., sich ein weiteres Standbein auszubauen: die Filmproduktion. Die Effektemacher wollen sich im Horror-, Splatter- und Monsterfilmbereich austoben. „Wir haben einen Hang dafür“, gesteht der Jungregisseur und bedauert, dass solche Aufträge im Tagesgeschäft eher rar sind. Bei den Filmfestspielen in Cannes lief bereits ein Teaser für das erste Filmprojekt aus dem Hause „Chris Creatures“. Kommendes Jahr soll der Science-Fiction-Monster-Schocker „Grind“ in die Produktion gehen. Privat allerdings würde Kunzmann sich mit seiner Freundin keinen Splatterfilm anschauen. „Da bevorzuge ich normale Kost.“ Was ihn interessiert, sagt er, sei das Professionelle daran. „Ich will wissen: Wie geht das?“ Da schimmert wieder der kleine Chris durch, dessen Mutter sich schon lange nicht mehr wundert.