Die neue Relevanz alter Fragen

ABENDVERANSTALTUNG Ist Kunst in der Lage, wurde im HAU diskutiert, die Welt zu verändern, statt sie nur zu spiegeln?

Ist Kunst in der Lage, die Welt zu verändern, anstatt sie nur zu spiegeln? Es sind keine neuen Fragen, die am Dienstagabend im Berliner HAU bei der Diskussionsrunde und Vorstellung des Buchs „Truth is concrete – A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics“ verhandelt werden, wohl aber welche von neuer Relevanz.

Zumindest darin sind sich die Moderatoren Helmut Draxler und Christoph Gurk und die drei Gäste, die Kuratorin Alana Lockward, der niederländische Künstler Jonas Staal und Florian Malzacher, Mitherausgeber des Buchs, einig. Malzacher, der auch Kurator des Grazer Kunstfestivals steirischer herbst ist, erklärt die hohe Bedeutung politischer Kunst vor allem aus den ökonomischen und politischen Krisen der Gegenwart. Der Band, der 99 Texte von Künstlern und Theoretikern, von Chantal Mouffe bis Slavoj Zizek, versammelt, biete einen antagonistischen Raum für neue Ideen zur politischen Selbstermächtigung.

Wie etwa das „Reality Bending“, das die subversive Macht von Fiktion erforscht. Eine Strategie, der sich Jonas Staal in seinem Buchbeitrag „Progressive Art“ bedient, für den er den Roman „Die Stadt der Sehenden“ des Schriftstellers José Saramago in den Mittelpunkt seiner Argumentation stellt. Darin geht es um eine Stadt, in der die Mehrheit der Bevölkerung bei demokratischen Wahlen eine Leerstimme abgibt. Trotz des auch in der realen Welt legitimen Anspruchs auf ein ungültiges Kreuz gerät die nun nicht mehr vom Volk legitimierte Regierung in Panik und reagiert mit der Verbannung ihrer Bürger. Staal interpretiert das ungewöhnliche Wahlverhalten als politischen, aber auch künstlerischen Akt einer Rückeroberung der Macht des Volkes – denn die Leerstimme stelle das System grundlegend infrage und eröffne einen Raum für neue Vorstellungen.

Die existenten Geschichten über unser Leben neu zu schreiben ist seit je auch die Strategie der Theorie des Postkolonialismus als Alternative zur weißen westlichen Geschichtsschreibung. Alana Lockward, Kuratorin des Kongresses „Be.Bop Black Europe Body Politics“, geht es vor allem darum, neue Netzwerke der Solidarität zu knüpfen, und beginnt ihre Präsentation mit dem Video „Whip it good“ – einer Performance der dänisch-karibischen Künstlerin Jeannette Ehlers, in der sie eine mit schwarzer Kohle getränkte Peitsche immer wieder mit Wucht gegen eine weiße Leinwand schlägt. Lockward betont, dass die Reaktionen auf die sonst in Galerien aufgeführte Performance stets kontrovers bis hin zur völligen Ablehnung waren. Die Peitsche ist anscheinend nicht nur Symbol des brutalen Kolonialismus, sondern auch eines kollektiven schlechten Gewissens.

Nicht thematisiert wurde die Frage, wie Kunst im Neoliberalismus, der diese nicht selten in stereotypen Begriffen wie „Radikalität“ oder „Authentizität“ gefangen hält, überhaupt noch subversiv sein kann. Vielleicht muss sich ein Kunstprojekt dafür erst in eine Organisation verwandeln, wie die von dem Künstler Ahmet Ögüt initiierte „Silent University“, eine unabhängige Wissensvermittlungsplattform für Asylanten und Migranten, deren Bildungsabschlüsse nicht anerkannt werden.

Weitere konkrete Beispiele blieben jedoch aus. Dies liegt weniger am Fehlen politischer Kunst als an dem unentschlossenen Hybrid zwischen Buchvorstellung und Diskussionsrunde, bei der viele interessante, aber oft unzusammenhängende Gedankenfragmente formuliert wurden. Vielleicht kann die Lektüre des Buchs sie in eine Ordnung bringen. PHILIPP RHENSIUS