„Ergebnisse wurden totgeschwiegen“

Vor knapp 60 Jahren verfolgte Alice Ricciardi-von Platen den Ärzte-Prozess vor dem Nürnberger Militärgericht. Kurz danach legte die Psychoanalytikerin die erste Studie zur „Euthanasie“ im Nationalsozialismus vor. Bis heute setzt sie sich für Menschen mit Behinderung ein

„Das Ineinandergreifen von Fürsorge und Tötung offenbarte sich mir erst im Nürnberger Prozess“

INTERVIEW: ANDREAS SPEIT

taz: Frau Ricciardi-von Platen, was am Ärzte-Prozess vor dem Nürnberger Militärgericht ist Ihnen bis heute unvergesslich?

Alice Ricciardi-von Platen: Die Dimension der Massenvernichtung und die Perfektion der Bürokratie. Zusammen mit Alexander Mitscherlich und Fred Mielke verfolgte ich den Prozess, in dessen Verlauf erstmals das ganze Ausmaß öffentlich wurde. Vorher war natürlich die „Euthanasie“ bekannt: Verwandte verschwanden, wurden aus den Anstalten verlegt. Aber im Verfahren eröffnete sich die ganze Dimension. Ein Schock. Ganz nach Plan wurden jene Menschen, die 1920 Karl Binding und Alfred Hoche als „lebende Leichname“ und „lebensunwertes Leben“ ausmachten, sterilisiert und vernichtet, um den „Volkskörper“ rein zu halten. Nach unserem Wissen wurden 350.000 Menschen zwangssterilisiert und 300.000 Menschen „euthanasiert“.

Sie waren für die Hessische Ärztekammer bei dem Prozess. Die Verbreitung ihrer Studie unterband die Ärzteschaft dann aber 1948.

Ja, die 3.000 Exemplare verschwanden. Die Ergebnisse wurden totgeschwiegen. Ein Jahr später, 1949, verlief die Reaktion auf Mitscherlichs und Mielkes „Dokumente des Nürnberger Ärzteprozess“ ebenso. Auf Drängen der Ärzteverbände wurde die Auslieferung verzögert, die Fakten verschwiegen. Die Reaktionen der Ärzteschaft dürften auf vielen Motive beruhen. Der Schock, wie viele Ärzte bei den „Programmen zur Volksgesundung“ mitmachten, dürfte eines sein. Ein weiteres: dass viele Ärzte in den KZ wirkten und auch vermeintliche Forschung an den Insassen verbrachen. Dass die Ärzteschaft sich schützen wollte, war sicher ein weiteres Motiv. Wie auch die Sorge, das Vertrauen des Volkes in die Ärzte zu erschüttern. Schnell galten wir als Netzbeschmutzer.

Sie arbeiteten 1933 in einer Potsdamer Klinik …

Die ersten Zwangssterilisationen habe ich in der vorher sehr guten psychosozial ausgerichteten Anstalt mitbekommen. Die nach damaligen Methoden zur Integration in das soziale Leben sehr fortschrittlichen Maßnahmen wurden sofort abgebrochen. Die Jugendlichen kamen in die berüchtigte Kinderheilanstalt in Görden. Tausende von Kindern wurden dort vergast.

Ahnten Sie, was kommen würde?

Heute vielleicht kaum denkbar, aber ich konnte mir als Ärztin damals kaum vorstellen, dass die in der Logik der NS-Medizin als Erbkrankheiten ausgemachten psychischen Erkrankungen und körperlichen Behinderungen von so einem Apparat vernichtet werden sollten. Das enge Netz der vermeintlichen Betreuung, das dem bürokratischen Apparat der Vernichtung zuarbeitete, konnte ich mir kaum denken. Das Ineinandergreifen von Fürsorgeeinrichtungen und Tötungsanstalten, das Hand in Hand von Fürsorgerin und Euthanasieärzten offenbarte sich mir erst im Prozess. Diese Bürokratie erfasste und vernichtete. Nur sehr wenige Menschen konnte ich retten, als ich 1938 erst in Bayern und später in Österreich als Landärztin arbeitete. Es gab kaum ein Entrinnen – aber es war möglich. Eine Psychiaterin ohne Arme, eine wunderschöne und reizende Frau, erzählte mir mal, dass sie überlebte, weil ihre Familie und ihr Heimatdorf sich vor sie stellten. Immer wieder sei eine Fürsorgerin in das Bergarbeiterdorf gekommen, bis die Dorfgemeinschaft ihr sagte: „Wenn du noch mal kommst, kannst du was erleben.“ Ihr Großvater wachte 14 Tage an ihrem Bett, als sie ins Krankenhaus musste. Wenn man sie holen wollte, sagte er: „Meine Enkelin wird nicht angerührt!“

In ihrer Studie weisen Sie bereits auf die erst später wieder entdecke Täter-Fraktion der „Idealisten“ hin.

Diese Ärzte glaubten, mit den neuen Methoden wie Elektroschocks Menschen gänzlich heilen zu können. Sie hofften, die leichter Erkrankten mit neuen Therapien in die Gesellschaft zurückführen zu können. In den Anstalten und Krankenhäusern waren für sie jedoch viele „hoffnungslose Fälle“, die bloß Geld und Zeit banden. Diese Einrichtungen wollte sie „entleeren“, um für die „hoffnungsvollen“ Fälle alles Know-how und alle Energie einsetzen zu können. Sie handelten aus einem Gemisch aus medizinischem Pionierdenken, dem Einzelnen zu helfen, revolutionärer Begeisterung, die Gesellschaft heilen zu können – und tödlichem Mitleid, die hoffnungslosen Fällen zu erlösen.

Ein naiver Idealismus, nach dem mit biologistischen Denkmodellen und medizinischen Therapien, soziale Probleme gelöst werden sollten?

Diese ganze Auffassung, Geisteskrankheiten seien rein erblich, ist gänzlich unwissenschaftlich. Dass nur die biologische Dimension den Menschen ausmacht, ist eine Pseudowissenschaft – damals wie heute. Der Einzelne interessierte die NS-Ärzte nie. Sie wollten alleine den „Volkskörper“ gesunden lassen. Ärzte waren insofern auch Sozial- und Bevölkerungspolitiker.

Ein Glücksversprechen: die Heilung des Einzelnen und die Entlastung der Gesellschaft. Klingt dieser Idealismus in den laufenden Debatten um Genforschung wieder mit?

Solche Töne sind wahrzunehmen. Mich wundert, was Mediziner so alles versprechen, was heilen und Kosten sparen soll. Aber gerade durch die neuen Erkenntnisse von den komplexen Wechselwirkungen zwischen Biologie und Psyche des Menschen wissen wir, wie wenig wir wirklich wissen. Die vermehrte Hinwendung, alleine die biologische Dimension zu untersuchen und zugleich eine medizinische Therapie zu versprechen, blendet die soziale Dimension des Menschen aus. Seriöse Wissenschaft versucht doch gerade, die ganzheitliche Dimension des Menschseins zu erfassen.

Der Prozess endete 1947 mit sieben Todesurteilen, neun Haftstrafen und sieben Freisprüchen. Das Gericht arbeitete aber auch den „Nürnberger Ärztekodex“ heraus.

Eine Richtlinie, die für Forschung und Betreuung gelten muss.

Kostendruck im Gesundheitswesen …

… darf die Patienten und Pflegebedürftigen nicht wieder dem totalen Zugriff der Medizin preisgeben. Im Ärztekodex schwingt die Hoffnung mit, einen gleichberechtigten Umgang von Ärzten, Pflegern und Patienten zu finden. Mehr Verständnis für die Betroffen schützt. Und mehr Zweifel an den eigenen Erkenntnissen dürfte den Medizinern helfen, weiter zu denken.

Alice Ricciardi-von Platen referiert heute in Hamburg bei der Veranstaltung „Gegen das Vergessen“ über „‚Euthanasie‘ und Naziideologie“: 19.30 Uhr, Hörsaal 1 des DWP, Von-Melle-Park 9